Danziger Platz. Die Polizei hat einen Zaun gezogen. An ihm hängen ein Dutzend Kränze, ein paar Blumensträuße und ein kleines Pappschild. Auf dem steht: "In tiefer Trauer". Dahinter ist das Haus, über das alle Welt berichtet, seit es dort am Sonntag brannte und neun Menschen ums Leben kamen. Jetzt ist es nur noch eine Ruine. Einsturzgefährdet. Deshalb auch der Zaun. Wie große schwarze Augen heben sich die verrußten Fenster von der hellbraunen Klinkerfassade ab, hinter der 24 Türken bis zum Brand lebten. Es gibt keine Scheiben mehr, nichts schützt die Wohnungen vor den neugierigen Blicken der Schaulustigen, die sich jeden Tag mit Handykameras und großen Teleobjektiven vor dem Zaun versammeln. Da, wo Kinder spielten, Mütter Essen kochten und Hausaufgaben kontrollierten, wo Väter Fahrräder reparierten und über das letzte Fußballspiel debattierten, wo Geburtstage gefeiert und Kochrezepte ausgetauscht wurden, hängt jetzt Tapete in Fetzen von verkohlten Wänden. Brandschaden, Anklage und Politikum zugleich. Die Leute fragen sich, was ist hier passiert, kurz nach dem Ende des Faschingsumzuges, als in Ludwigshafen die Sonne schien und 250.000 Narren juxend durch die Straßen zogen. Keine zehn Minuten von der Hölle entfernt. War es ein technischer Defekt, wie die Verkäuferin im nahen Blumenladen meint, war es ein gezielter Anschlag auf die Bewohner des Hauses, wie andere fürchten, ein Unglück, wie der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) versichert oder war alles Gottes Wille, wie Meleks Mutter glaubt? Der 17-Jährige ist mit seinen Kumpels zum Danziger Platz gekommen, um Antworten zu finden. Jeden Tag.
Gestern waren auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Kurt Beck da. Zur Vor Ort-Besichtigung und zur politischen Schadensbegrenzung. Der Platz vor dem Zaun war rappelvoll. Mehr als 2000 Ludwigshafener, vorwiegend Türken, wollten wissen, was die beiden Männer ihnen zu sagen haben. Melek hat mit dem Handy ein Video von Erdogan aufgenommen. Für seine Mutter. Wenn sie sich das anschaut, wird sie hören, dass der Politiker ihrer Meinung ist. "Unser Leben liegt in Gottes Hand" hat er gesagt und dass die Freundschaft und der Frieden zwischen Türken und Deutschen nicht mit vorschnellen Verdächtigungen und unbedachten Äußerungen gefährdet werden darf. Ingelinde Leibnitz spricht er damit aus dem Herzen. Gestern hat sich die Fleischersfrau in das Kondolenzbuch der Stadt eingetragen und gleich noch ein paar Kleinigkeiten bei ihrem Lieblings- Dönerimbiss abgegeben. "Töpfe, Pfannen, ein paar Bettsachen und so, was man halt braucht, wenn man noch mal neu anfangen muss", sagt sie. Der Dönerverkäufer hat versprochen, die Spenden weiterzuleiten an die betroffenen Familien. Ingelinde Leibnitz fühlt sich jetzt wieder etwas besser. Die Hilfsbereitschaft in Ludwigshafen sei wirklich groß und eigentlich könnte man viel für die Hinterblieben der Opfer tun, ihnen beistehen und das Leben danach anpacken, erklärt sie. Immerhin seien schon mehr als 50.000 Euro gespendet worden. Wenn nur endlich all die Leute still wären, die mit ihren Spekulationen das Klima in der Stadt vergiften.
"Gut, dass Erdogan da war, schade, dass Frau Merkel nicht dabei war"
Sigrid Karck meint dasselbe, formuliert es aber anders, diplomatischer. Einige hundert Gespräche und Telefonate hat die Stadtsprecherin in den vergangenen Tagen geführt. Ein dutzend Besprechungen mit Kollegen, den Medien, der Polizei und der Feuerwehr geführt, kaum geschlafen und viel gegrübelt. 171.000 Einwohner hat Ludwigshafen, darunter 30.000 Leute mit Migrationshintergrund. 85 Prozent Türken. Es gibt deutsch-türkische Sportvereine, Integrationskurse an der Volkshochschule und Sprachtrainings in den Kindergärten. Gemeinsame Kulturveranstaltungen. Multikulti-Alltag. "Wir sind hier immer gut miteinander ausgekommen, bisher", versichert sie und kann nicht begreifen, was sich plötzlich in der Kommune abspielt. Warum hält der Mann da drüben am Zaun ein Schild in die Kameras, auf dem steht: "Gestern Solingen - Heute Ludwigshafen - Morgen?" Warum prügelt ein Türke auf einen Feuerwehrmann ein, warum beschimpfen sich Leute, die eben noch friedliche Nachbarn waren? Warum redet plötzlich die ganze Republik über die rechten Schmierereien am Eingang des Brandhauses? Hass mit SS-Runen. "Das stand da schon seit fünf Jahren und hat bisher niemanden gestört", sagt Polizeisprecher Michael Lindner schulterzuckend. Die türkischen Bewohner sind jeden Tag daran vorbeigegangen, beim Weg ins Kulturzentrum "Kale", das im Parterre des Brandhauses untergebracht war. Das war doch irgendwie alles ganz normal.
Emel Ipbüken hat keine Zeit für solche Gedanken und erst recht nicht für politische Diskussionen. "Gut, dass Erdogan da war, schade, dass Frau Merkel nicht dabei war", sagt sie und dann hat sie wieder zu tun. Die deutsch-türkische Anwältin hat sich nach dem Brand mit einer Handvoll Gleichgesinnter zusammengetan und ein Solidaritätsbündnis für die Opfer der Katastrophe ins Leben gerufen. "Türkische Geschäftsleute, Juristen, Psychologen und bis zu 30 Vereine gehören dazu", erzählt sie. Denn was jetzt gebraucht würde, sei praktische Hilfe. Traumatherapie, Alltagsorganisation, möglicherweise auch juristischer Rat. Für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass der Brand doch ein Anschlag war. In einem Bauwagen vor dem Zaun haben sich die Mitstreiter zur Lagebesprechung getroffen. Ein Stück ab von den Übertragungswagen der großen TV-Sender. Dafür ganz nah dran am Elend der Überlebenden, die nicht wissen, wie sie je fertig werden sollen mit dem Grauen, das über sie hereinbrach, bei Sonnenschein und strahlend blauem Himmel. Ayshe Özdengül mag gar nicht daran denken. Sie ist mit ihren Freundinnen zum Danziger Platz gekommen. "Wenn du das hier siehst, da kannst du doch nur noch heulen", sagt die 22-Jährige und: "Wenn es Gott gibt, wo war er am Sonntag, verdammt noch mal?"