Ein wenig ratlos stehen die Lastwagenfahrer und Lageristen in grauen Trainingsanzügen vor der Stadthalle im nordhessischen Homberg/Efze. Ihre eigene Kleidung mussten sie ausziehen - Giftgasalarm. Die Szene mit den Giftgas-Experten erinnert an einen Science-Fiction-Film: Vier Männer in grellorangenen Schutzanzügen mit Atemschutzmasken begleiten die Lkw-Fahrer vor dem Umziehen zu den provisorischen Duschen in ein Notfall-Zelt. Und Stunden ist unklar, ob die giftige und stinkende Wolke über dem Firmengelände auch die Kleinstadt gefährdet.
Am Vormittag gibt die Polizei endlich Entwarnung. "Wenn man nichts riecht, ist man auch nicht in Gefahr", sagt Polizeisprecher Reinhard Giesa. "Ich hatte ein Brennen im Hals und im Bauch. Jetzt beobachte ich mich sehr genau. Man hat Angst", erzählt Jens Schwarz. Der Lastwagenfahrer wacht kurz nach 02.00 Uhr in der Nacht zum Mittwoch auf, wenig später folgt die Anweisung der Feuerwehr: Das Gelände rund um die Logistikfirma muss sofort verlassen werden. "Es roch nach offenem Gullydeckel", erinnert sich der 32-Jährige.
Die meisten Lastwagenfahrer schlafen noch in ihren Wagen, als der Unfall bemerkt wird. Ein Gabelstapler hatte in der Nacht beim Verladen ein beschädigtes 200-Liter-Fass mit der giftigen Flüssigkeit entdeckt und die Feuerwehr alarmiert. Etwa 30 Liter der Chemikalie werden freigesetzt. Die Gaswolke verflüchtigt sich im Laufe der Stunden, dennoch bleibt das Industriegebiet um das Logistikunternehmen zunächst weiträumig gesperrt.
Auch am späten Vormittag sind noch nicht alle Männer geduscht. Es gibt keine Ersatzschuhe mehr, viele laufen statt der grün-gelben Schlappen mit Plastiktüten an den Füßen herum. "Viele husten, jetzt fängt es bei manchen langsam an", sagt der 51-jährige Siegmund Kolb, selbst ein Fernfahrer. Andere klagen über Schwindel und Kopfschmerzen.
Kolb selbst hat den fiesen Geruch in der Nacht über die Standheizung seines Lkw mitbekommen, Beschwerden hat er zunächst aber nicht. Bis zu 48 Stunden später könnten noch Symptome auftreten, haben die Ärzte den Betroffenen erzählt. Und die werden immer zahlreicher: In der Nacht zählt die Polizei zunächst unter 130 Betroffenen vier Verletzte, bis zum Abend werden 42 von 242 betroffenen Menschen mit Atemwegsreizungen, Schwindel oder Kopfschmerzen zur Beobachtung in die umliegenden Krankenhäuser gebracht.
Die Feuerwehr rät den Hombergern noch in der Nacht per Lautsprecherdurchsage, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Nach der ersten Einschätzung der Lage besteht für die Anwohner allerdings keine Gefahr. Die Giftwolke hat sich am Morgen bereits weitgehend verflüchtigt. "Nach menschlichem Ermessen kann nichts passieren", sagt Bürgermeister Martin Wagner. In den Schulen wurden die Schüler betreut, es sei aber auch möglich, die Kinder zu Hause zu lassen, sagte der Sprecher des Kreises Schwalm-Eder, Dieter Werkmeister.
Am Abend hat sich die Aufregung gelegt: Die Lastwagen, die tagsüber Rad an Rad auf dem Firmengelände standen, durften am Abend ohne umfassende Entgiftung der Fahrzeuge ihre Fahrt fortsetzen. Auf Fernfahrer Kolb warten in Bayreuth Frau und drei Kinder. Sie machen sich Sorgen. "Ihre Stimme am Telefon war sehr belegt."