Hambacher Forst Kind mit Schal im Gesicht: Schritt die Polizei wegen Vermummung eines Sechsjährigen ein?

Die Situation im Hambacher Forst
Der sechsjährige Junge hielt sich mit seiner Mutter im Hambacher Forst auf
© Theo Heyen
Ist die Polizei im Hambacher Forst gegen eine Mutter vorgegangen, weil ihr sechsjähriger Sohn einen Schal vor dem Gesicht trug? Was zunächst absurd klingt, hat offenbar einen ernsten Hintergrund. Das Jugendamt ist eingeschaltet.

Der seit Wochen laufende Polizeieinsatz zur Räumung der Baumhäuser im Hambacher Forst sorgt wieder einmal für Aufruhr und Empörung – und für Verwirrung zugleich.

Hintergrund ist der Bericht einer Mutter auf Twitter, die nach eigenen Angaben aus Berlin kommt und vor gut einer Woche gemeinsam mit ihrer 15-jährigen Tochter und ihrem sechsjährigen Sohn in den Wald gereist ist.

Am späten Montagnachmittag seien sie und ihr Sohn von acht Polizisten umringt und von diesen auf den Schal angesprochen worden, den sich der Junge über Mund und Nase gezogen hatte, während er zum Beispiel mit Stöcken im Wald gespielt habe. Die Beamten hätten auf einen Verstoß gegen das Vermummungsverbot verwiesen, so die Mutter. Ihr sei mitgeteilt worden, dass der Sohn in den vergangenen drei Tagen von der Polizei mehrfach gefilmt worden sei und die Aufnahmen weitere Vermummungen zeigen würden.

Personalien im Hambacher Forst aufgenommen

Die Einsatzkräfte hätten die Personalien von ihr und ihrem Kind aufgenommen, berichtet die Frau, und ihr eine Anzeige sowie einen Bericht an das Jugendamt angekündigt. "Der Polizist meinte, ich als Mutter und Aufsichtsperson vor Ort wäre sozusagen haftbar zu machen", schreibt sie. Das Auftreten der Polizisten habe ihrem Sohn Angst gemacht, inzwischen – zurück in Berlin – gehe es ihm aber wieder gut.

Die Frau legt Wert darauf, keine Demonstrationsteilnehmerin gewesen zu sein. Vielmehr sei sie mit Erlaubnis der Polizei an der Stelle im Wald gewesen, weil sie ihre jugendliche Tochter bei deren Vor-Ort-Recherche für ihre Schülerzeitung begleitet habe. Vom Schulunterricht seien ihre Kinder freigestellt gewesen.

Sie wolle nun ihren Anwalt über die Angelegenheit informieren und mit ihm das weitere Vorgehen abstimmen. Eine stern-Anfrage zu den Vorfall ließ die Mutter unbeantwortet.

Das federführende Polizeipräsidium in Aachen sieht die Sache ein wenig anders: Zwar bestätigte eine Sprecherin dem stern eine polizeiliche Maßnahme gegen die Frau, sie bestritt aber nach Rücksprache mit ihren eingesetzten Kollegen, dass es dabei um einen Verstoß gegen das Vermummungsverbot gegangen sei. Den Beamten sei vollkommen klar gewesen, dass der Schal als Schutz gegen die Witterung getragen wurde.

Wald als "gefährlicher Ort" eingestuft

Den Polizisten sei die Mutter mit ihrem Sohn in den Tagen zuvor schon mehrfach in dem Wald aufgefallen, sodass sie von einem längeren Aufenthalt dort ausgegangen seien. Der Hambacher Wald sei jedoch als "gefährlicher Ort" eingestuft und damit ungeeignet für den längeren Aufenthalt eines sechsjährigen Kindes. Das Verwaltungsgericht Aachen hatte die Einstufung als "gefährlichen Ort" Anfang September bestätigt. Die Behörden dürfen an solchen Orten mit erhöhter Kriminalität unter anderem verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen und ohne Angaben von Gründen die Personalien aufnehmen.

"Weil die Mutter einen Schutzbefohlenen über mehrere Tage an einen gefährlichen Ort gebracht hat, haben die Kollegen einen Bericht an das zuständige Jugendamt geschrieben", so die Sprecherin des Polizeipräsidiums Aachen. Eine Anzeige oder ein Strafverfahren gegen die Frau gebe es nicht.

Dass sich ein Kind länger an einem als "gefährlich" definierten Ort aufhält, ist indes nicht ungewöhnlich. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es rund zwei Dutzend dieser festgelegten Brennpunkte, wie unter anderem die "Rheinische Post" berichtete. Viele davon umfassen auch Wohngebiete, in denen Kinder sogar dauerhaft leben. Wie es im Fall des Sechsjährigen und seiner Mutter weitergeht, liegt nun in der Hand des Jugendamtes.

Journalist beobachtete die Szene

Der TV-Journalist Theo Heyen ist für den Sender Arte im Hambacher Forst im Einsatz. Er hat die Szene nach eigenen Angaben beobachtet und in seinen Social-Media-Profilen öffentlich gemacht:

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Im Gespräch mit dem stern stützt er die Darstellung der Mutter, wonach der Schal vor dem Gesicht des Jungen Auslöser für die Maßnahme der Beamten war: "Anlass und Hebel für die Polizeiaktion war ganz eindeutig die vermeintliche Vermummung des Kindes." Die Pressestelle der Aachener Polizei stelle das Ereignis nicht korrekt dar.

Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass sich die Versionen von Polizei und Beobachtern zu den Vorgängen im Wald erheblich unterscheiden. So musste die Behörde erst kürzlich von einer Darstellung zurückrudern, wonach sie eine "lebensgefährliche" Falle im Wald entdeckt habe. Ein mit Beton gefüllter Eimer entpuppte sich als Verankerung für Kletterseile. Im Fall des nach einem Sturz verstorbenen Journalisten musste die Polizei einräumen, dass es entgegen ihrer ersten Schilderung doch einen Einsatz im Umfeld des Unglücksortes gab, der jedoch nach jetzigem Stand nichts mit dem tödlichen Unfall zu tun hatte.

Aber auch von anderer Seite kommen falsche Informationen: Die Polizei könne bei Zuwiderhandlungen gegenüber RWE-Mitarbeitern die "körperliche Unversehrtheit nicht mehr gewährleisten", heißt es auf einem vermeintlichen Screenshot vom Twitterkanal der Polizei Aachen, der im Netz kursiert. Es handele sich um einen Fake, stellte die Behörde klar. Einen solchen Eintrag habe die Polizei auf ihrem Twitterkanal nicht veröffentlicht.

Das Ringen um den Hambacher Forst ist längst auch zum Ringen um die Wahrheit und um die Deutungshoheit der Geschehnisse geworden, das zeigt die Diskussion um den Jungen einmal mehr.

Trotz der Probleme, die seine Mutter mit der Polizei hatte, steht der Berufswunsch des Sechsjährigen übrigens fest: Er will SEK-Beamter werden. "Deshalb verkleidet er sich gern, auch mit Gesichtsschutz", schreibt seine Mutter.

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