"Ich bin Nyo Mynt. Ich bin die Älteste von sechs Brüdern und Schwestern. Ich bin 16. Das jüngste meiner Geschwister ist zwei Jahre alt. Wir kommen aus einem Dorf in der Nähe von Latputta. Jetzt sind alle tot. Nur ich bin noch da."
Jede Seite in Joys Notizblock ist eine Geschichte. Manche sind nur kurz, manche seitenlang. Manche sind voller Glück, die meisten voller Verzweiflung. Nur eines haben alle gemeinsam. Sie beginnen am 2. Mai, dem Tag, als der große Sturm durch Myanmar fegte. Es ist Joys Job, die Erzählungen aufzuschreiben, alle Fälle zu registrieren, die Lage zu analysieren und Konzepte zu entwerfen, für die, die das Grauen des Zyklons "Nargis" überlebt haben. Für Kinder wie Nyo Mint, die jetzt in einem Flüchtlingscamp in Myaung Mya sitzt, rund 50 Kilometer von Latputta entfernt, und Joy, einer Mitarbeiterin der Hilfsorganisation World Vision diktiert, was sie selbst kaum begreifen kann. Ihr Tagebuch aus der Hölle:
Freitag, 2. Mai 2008
"Der 2. Mai war ein ganz normaler Tag. Ich hörte, dass ein Sturm kommen würde. Die Anzeichen waren vorhanden - dunkle Wolken und Regen. Meine Eltern und wir größeren Kinder arbeiteten den ganzen Tag auf der Farm. Es passierte aber nichts bis zum Abend. Wir bereiteten gerade unser Abendessen zu, als der Wind unser kleines Haus umblies. Die Umgebung wurde schnell von Wasser überflutet. Wir liefen zu der höher gelegenen Kirche, nicht weit von unserem Haus.
Es war schwer, die Kirche zu erreichen, mitten in Wind, Regen und steigender Überschwemmung. Um sicherzugehen, dass wir zusammenbleiben, banden wir uns mit einem selbst gemachten Kokosnuss-Seil aneinander.
An einer Stelle riss plötzlich das Seil. Nur noch meine Mutter und ich hingen zusammen. Die andern wurden von der Flut weggeschwemmt. Ich ergriff meine Mutter mit einer Hand mit ganzer Kraft. Wir stießen auf einen Baum, der dahergetrieben kam. Wegen dieses Aufpralls hatte ich keine Kraft mehr in meiner Hand und verlor meine Mutter! Ich war schockiert und verzweifelt, aber ich klammerte mich die ganze Nacht an diesen Baum. Die Flut überspülte mich viele Male und tauchte mich unter.
Samstag, 3. Mai 2008
Als am nächsten Tag die Sonne aufging, war das Wasser schon zurückgegangen. Ich kletterte vom Baum runter, aber ich konnte nicht mehr laufen. Mein ganzer Körper schmerzte. Zum Glück fand ich einen Büffel und konnte ins Dorf reiten. Wo unser Haus gestanden hatte, war nichts mehr. Das Einzige, was ich fand, war ein Messer. Ich ging hinüber zur Kirche und merkte gar nicht, dass ich nackt war. Bei der Kirche waren viele Menschen. Jemand gab mir ein T-Shirt. Unser Dorf hat zwei Pastoren. Beide sind gestorben. Von mehr als 1000 Dörflern haben nur ungefähr 300 überlebt.
Spendenkonten
World Vision ruft als Mitglied des Nothilfe-Bündnisses "Aktion Deutschland Hilft" zu Spenden auf.
Spendenkonto: Spendenkonto 102030 BLZ 370 205 00 Stichwort: Zyklon Myanmar
Sonntag, 4. Mai 2008
Am nächsten Tag gingen wir in ein nahegelegenes Dorf. Sie sagten uns, wir sollten nach Pyinsalu gehen. Diese Stadt war auch stark zerstört. Nur zehn Prozent der Einwohner hatten den Wirbelsturm überlebt.
Zahllose Leichen trieben in den Flüssen und lagen auf den Straßen. Der Leichengestank verpestete die Luft. In Pyinsalu gab man uns eine Mischung aus Reis und Nudeln, aber kein frisches Wasser. Wir waren auf Kokosnussmilch angewiesen. Und hatten solchen Durst.
Montag, 5. Mai 2008
Eine Fähre brachte uns nach Latputta Township. Zehntausende Überlebende waren schon in der Stadt gestrandet. Wir gingen in das Haus von Bekannten, die uns aufnahmen. Weil wir nichts zu essen hatten, stürzte ich mich auf den Straßen in das Gedränge, um gekochten Reis zu bekommen. Es war zu wenig da, und nur die Stärksten bekamen etwas ab. Ein Reishändler spendete dieses Essen. Dieser Ort war nur eine andere Art von Hölle als die in meinem Dorf. Wir mussten dort zwei Tage bleiben.
Dienstag, 6. Mai 2008
Ich reiste in die Distrikt-Hauptstadt Myaung Mya auf einem Lastwagen, der mit Überlebenden wie uns beladen war. Schließlich kam ich hier im Flüchtlingscamp an. Hier ist die Lage viel besser als in Latputta. Nach vier Tagen erhielt ich zum ersten Mal eine richtige Mahlzeit aus Reis und Curry."
Nyo Mint soll sich jetzt erst einmal ausruhen, Kraft tanken und versuchen, das Erlebte zu verarbeiten. Keine leichte Sache, denn täglich kommen neue Flüchtlinge. Kinder wie Nyo Mint, die alles verloren haben und immer neue Geschichten aus der Hölle mit ins Lager bringen.
Inzwischen seien bis zu 30.000 Überlebende aus den am schwersten betroffenen Gebieten im Katastrophen-Delta in den Flüchtlingscamps von Myaung Mya angekommen, berichtet Samson J. von World Vision. "Sie haben Tage unglaublicher Strapazen hinter sich, in denen sie kaum etwas zu essen hatten und Wasser tranken, das von Salz, menschlichen Überresten und stinkenden Tierkörpern verseucht ist."
Die Mitarbeiter der christlichen Hilfsorganisation, die international mehr als 600 Mitarbeiter hat, schlagen Alarm. Zusammen mit Helfern anderer humanitärer Einrichtungen haben sie die Zustände in 26 Flüchtlingsunterkünften genauer untersucht und neben vielen Nöten auch zahlreiche kranke Kinder vorgefunden, die an Fieber, Durchfall und Atemwegserkrankungen leiden. "In dieser Situation sind vor allem die Kleinen unter fünf Jahren gefährdet, weil sie kaum noch Abwehrkräfte entgegenzusetzen haben", sagt Samson und fürchtet: "Sie gehören zu denen, die als Erste sterben werden, wenn wir ihnen nicht bald helfen können."
Ein Anfang, aber nicht genug
World Vision hat daher außer Nahrung, sauberem Wasser und Decken auch Medikamente ausgeteilt. "Erste Hilfe, die wir nur deshalb geben können, weil wir in der Nähe seit Jahren ein Entwicklungsprojekt unterhalten", erklärt Helga Stammberg, die für World Vision ebenfalls vor Ort ist. Um vor allem den vielen Kindern zu helfen, die der Sturm zu Waisen gemacht hat oder deren Familien verschollen sind, werden zur Zeit gemeinsam mit lokalen Helfern Vorbereitungen für die Einrichtung von Kinderbetreuungszentren getroffen.
Außerdem hat World Vision inzwischen begonnen, sauberes Wasser zu den Überlebenden in der Irrawaddy-Region zu liefern. Brunnen werden gechlort, Wassertanks und Desinfektionsmittel für die Lager bereitgestellt und Diesel-Kraftstoff für den Betrieb von Wasserpumpen verteilt. Mittlerweile erhalten in Yangon mehr als 78.000 Menschen sauberes Wasser. Ein Anfang ist das, aber längst nicht genug.
Hunderttausende ohne Dach über dem Kopf
Nach UN-Angaben hausen noch immer hunderttausende Obdachlose unter schrecklichen Bedingungen in Unterständen und Lagern, in denen Überbelegung und hygienischer Notstand an der Tagesordnung sind. Nyo Mint ist zwar zunächst in Sicherheit, aber ohne eine Vorstellung, wie es weitergehen soll. Das Tagebuch ihrer Zukunft hat nur weiße Seiten. Ohne ihre Eltern, ohne ihre Geschwister und ohne ihr Zuhause. Sie sagt: "Ich möchte nicht in mein Dorf zurück, denn das ist für mich nur noch ein Ort, wo die Toten sind. Vielleicht finde ich einen Job in einer großen Stadt wie Pathien oder Yangon. Aber was genau sein wird, weiß ich nicht."