Vor 60 Jahren kamen im Ural-Gebrige neun Studenten unter äußerst rätselhaften Umständen ums Leben. Was in der Nacht auf den 2. Februar 1959 am Djatlow-Pass geschah, ist bis heute ungeklärt. Vermutet wird nur, dass die Skiwanderer, angeführt von dem 23-jährigen Igor Dajtlow, nach welchem später der Pass und auch der Fall benannt wurde, von innen ihr Zelt aufgeschlitzt und raus in die Nacht geflüchtet sein müssen. Ihre Leichen wurden später an zwei verschiedenen Stellen im Gebirge gefunden. Die ersten fünf Leichen wurden rund drei Wochen nach der unerklärlichen Flucht entdeckt. Die Ermittler vermuteten damals, dass sie auf dem Weg zurück zum Zelt erfroren sind.
Die anderen vier Leichen wurden erst im Mai 1959 gefunden. Ihre Körper befanden sich in einer Mulde in der Nähe eines Baches, wo sie sich offenbar aus Zweigen eine Notunterkunft zu bauen versucht hatten. Diese Leichen wiesen bislang unerklärbare Verletzungen auf. Bei Ljudmila Dubinina waren alle Rippen gebrochen, ihr fehlte die Zunge und die Augen. Semjon Zolotarjoew hatte einen mehrfachen Rippenbruch auf der rechten Seite und auch ihm fehlte die Zunge. Nikolaj Thibeaux-Brignolle hatte schwere Schädelfrakturen. Und nur Alexander Kolewatow starb an Unterkühlung. So zumindest die offizielle Darstellung der sowjetischen Behörden, die den Tod der jungen Leute damals nur durch eine "höhere Gewalt" erklären konnten.

Ermittler wollen das Geschehen nachspielen
Die ungewöhnlichen Umstände des Todes der Djatlow-Gruppe dienen bis heute als Grundlage für zahlreiche Gruselgeschichten und Verschwörungstheorien. Das Interesse an dem Vorfall ist auch nach 60 Jahren so immens, dass die russischen Behörden nun eine erneute Untersuchung beginnen. Am Montag stellte die Staatsanwaltschaft der Region Swerdlowsk, die die Untersuchung leiten wird, ihre Pläne vor. Es werden drei mögliche Ursachen für die Tragödie untersucht, gab Staatsanwalt Andrei Kurjakow auf einer Pressekonferenz bekannt: Lawine, Wirbelsturm und ein sogenanntes Schneebrett, eine Lawine, bei der der Schnee sich quer am Hang entlang ablöst und wie ein Brett auf einmal nach unten rutscht.
Um möglichst genau nachvollziehen zu können, was in der Unglücksnacht geschehen ist, soll in der zweiten Hälfte des kommenden März ein Reenactment-Experiment durchgeführt werden. Laut Kurjakow wollen die Ermittler genau an derselben Stelle, wo einst die Djatlow-Gruppe ihr Lager aufgeschlagen hatte, ein Zelt aufstellen und den vermuteten Ablauf jener Nacht nachspielen. Man werde das Zelt von Innen aufschneiden, zum Bach hinuntersteigen, wo vier der neun Leichen gefunden worden waren, und versuchen wieder die Strecke zurückzulegen, die die zweite Gruppe der Studenten eingeschlagen hatte, als sie mutmaßlich zurück zum Zelt sich durchschlagen wollte. "Die Jungs und Mädels lebten noch sechs bis acht Stunden, nachdem sie das Zelt verlassen hatten", so Kurjakow. Man werde messen, ob die verunglückten Studenten in dieser Zeit die besagten Strecken überhaupt hätten zurücklegen können.
Horror im Ural - der Tod einer Studentengruppe

Staatsanwalt bestätigt erhöhte radioaktive Werte
Neben dem Experiment am Djatlow-Pass soll eine psychiatrische Analyse das mögliche Verhalten der Opfer in normalen als auch Extremsituation neu einschätzen. Hierzu sollen psychologische Profile der neun Gruppenmitglieder anhand von Medienberichten, privaten Aufzeichnungen und Zeitzeugeninterviews erstellt werden. Kurjakow schließt außerdem eine Exhumierung nicht aus. "Falls die Experten eine Exhumierung für notwendig erachten, werden wir die Angehörigen um Erlaubnis bitten", so der Staatsanwalt.
Dies würde unter Umständen zumindest ein Gerücht entweder widerlegen oder bestätigen können. Familienangehörige der Opfer hatten bereits in den 60er-Jahren ausgesagt, dass die Leichen eine seltsame braune Verfärbung aufgewiesen hatten und manche von ihnen vollständig ergraut waren. Dies deuten einige als Auswirkung von starker Radioaktivität. Dazu würde passen, dass an der Kleidung der Opfer tatsächlich erhöhte radioaktive Werte festgestellt worden waren. "In der Fallakte gibt es tatsächlich Aufzeichnungen über erhöhte Strahlungswerte auf der Kleidung", bestätigte Kurjakow. "Wir werden alles mit modernen Geräten überprüfen" versprach er und präsentierte den versammelten Journalisten 400 Seiten an Originalakten, die 60 Jahre lang unter Verschluss gehalten wurden.
Grund der langen Geheimhaltung soll ein einzelnes Dokument gewesen sein. "Wenn auch nur ein einziges Dokument als geheim eingestuft wird, dann unterliegt die gesamte Akte der Geheimhaltung", erklärte Kurjakow. Im Djatlow-Fall sei das der Befehl zur Durchführung operativer Ermittlungen gewesen, dessen Geheimhaltung nun jedoch aufgehoben wurde. Solche Befehle würde auch noch heute als geheim eingestuft, so der Staatsanwalt. Das sei das übliche Verfahren.
(Das Dokument, das als einziges in der Djatlow-Akte als geheim eingestuft worden sein soll.)
Nur drei der 90 Versionen werden untersucht
Doch Gerüchten zufolge soll es eine zweite Akte zu dem Fall geben. Kurjakow bemühte sich während der Pressekonferenz, den Spekulationen ein Ende zu setzten und beteuerte, es gebe nur die eine Akte, die er den Journalisten vor die Augen hielt. Doch die Zweifel zu zerstreuen, gelang ihm nicht. Immer und immer wieder hakten die Journalisten nach, am Ende verließen sie frustriert den Saal, wie etwa die russische Zeitung "Gazeta.ru" resümiert.
Die neuen Untersuchungen werden dem wohl auch keine Abhilfe schaffen. Denn anstatt der 90 Versionen des Geschehens, die nach Angaben der Staatsanwaltschaft selbst in den Akten enthalten sind, sollen nur drei erneut untersucht werden. "Wir haben jahrelang dafür gekämpft, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden", sagte etwa Wjacheslaw Karelin dem Nachrichtenportal "Mayaksbor.ru". Er selbst hatte 1959 an einer anderen Ski-Tour im nördlichen Ural teilgenommen. "Doch nun bin ich empört und verblüfft darüber, dass nur drei Theorien überprüft werden sollen, die alle mit Naturkatastrophen verbunden sind: Lawine, Schneebrett und Wirbelsturm." Denn gerade diese Theorien konnten bereits 1959 praktisch ausgeschlossen werden, weil in der Gegend in der Unglücksnacht kein Wirbelsturm von den meteorologischen Diensten aufgezeichnet worden ist und eine Lawine das Zelt nicht an Ort und Stelle gelassen hätte.
Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft nun jegliche Verwicklung von staatlichen Organen in den Fall oder auch ein Kriminalverbrechen ausschließt, dürfte die Spekulationen nur erneut anheizen.
Viele glauben an einen Raketeneinschlag
Eine Theorie, die viele Anhänger hat, ist ein Raketeneinschlag. Kurz nach der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft meldete sich Valentin Yakimenko zu Wort. Er gehörte 1959 zu dem Such-Trupp, der nach den vermissten Studenten gesucht hatte. Er ist überzeugt, dass die Djatlow-Gruppe Opfer eines technischen Unfalls geworden ist und behauptet, dass es den jungen Leuten sogar gelungen sei, ein leuchtendes Objekt nur knappe 100 Meter von ihnen entfernt, zu fotografieren. "Es gab mehrere Aufnahmen, die die Ermittler damals nicht gesehen oder bewusst vor Ort gelassen haben. Sie zeigten ein Objekt, das die Form eines hellen Flecks hatte, bei dem scheinbar eine Art Flüssigkeit auslief", erzählte er. Yakimenko denkt, dass es sich bei dem Objekt um eine Rakete oder Flugzeug handeln muss.
Zeugenberichte stützen seine Aussage. Mehrere Personen berichteten, dass sie in jener Nacht tatsächlich einen hellen Fleck am Himmel beobachtet haben, den sie sich nicht erklären konnten.
Die Theorie eines Raketeneinschlags vertritt auch Peter Bartholomej, ein Freund des verstorbenen Igor Djatlow und Doktor der Technikwissenschaften. Auf einer Pressekonferenz in Jekaterinburg erklärte er, dass der Start einer ballistischen Rakete die Tragödie verursacht haben könnte. Dabei stützt er sich auf ein Buch des russischen Militärs. "Eine Aufgabe von besonderer staatlicher Bedeutung. Aus der Geschichte der Entstehung von Atomraketen und strategischer Raketentruppen", lautet sein Titel. Das Buch enthält Daten zur sowjetischen Raketentechnik und ihrer Erprobung in den Jahren zwischen 1945 und 1959.
"Uns wurde weis gemacht, dass es Anfang Februar [1959] keine Raketenstarts gab", zitiert die Nachrichtenagentur Ria Bartholomej. "Und plötzlich taucht ein Buch auf, das auf 1204 Seiten alle Raketenstarts dieser Zeit dokumentiert. Dort haben wir einen Vermerk über einen Raketenstart von Kapustin Jar gefunden, das nach einer Notsituation unterbrechen werden musste, und zwar am 2. Februar um 6 Uhr morgens. Die Tragödie könnte sich also nicht in der Nacht zugetragen haben, wie wir denken, sondern früh morgens." Kapustin Jar ist ein früheres sowjetisches und jetzt russisches Raketentestgelände in der Nähe von Wolgograd. Es entstand 1947 und war bis zur Fertigstellung von Baikonur 1957 das einzige sowjetische Testgelände für ballistische Raketen und ist über 2000 Kilometer von Djatlow Pass entfernt.
Keine Theorie ist lückenlos
Doch auch diese Theorie hat Schwächen. Ein Raketeneinschlag würde zwar die gebrochenen Rippen und Schädelfrakturen der Opfer erklären, aber nicht die fehlenden Augen und Zunge. Anhänger dieser Version des Geschehens vermuten jedoch, dass die Studenten hätten beseitigt werden können, nachdem sie ein geheimes Militärexperiment beobachtet haben. Viele Russen, die erfahrungsgemäß ihrer Regierung und dem Militär alles zutrauen, sind geneigt das zu glauben. Oder denken zumindest, dass die Behörden und Geheimdienste in den Fall verstrickt sind.
Immer wieder tauchen neue Theorien auf. Doch keine vermag lückenlos alle Seltsamkeiten des Falls zu erklären. Das Rätsel, was damals wirklich passiert ist, bleibt weiter ungelöst. Auch die neuen Untersuchungen, die so begrenzt bleiben, werden wohl kein Licht ins Dunkel bringen.