Interview "Man muss ihnen die Chance geben"

Sie wissen, dass die Operation lebensgefährlich ist und sie ihre Kinder verlieren können: die Eltern von Lea und Tabea, Nelly und Peter, über Ängste, Hoffnungen und ihr Vertrauen in Gott.

Haben Sie die Autobiografie "Begnadete Hände" des Neurochirurgen Benjamin Carson gelesen?

Nelly: Ja. Abwechselnd lasen wir einander daraus vor. Und keiner durfte heimlich vorauslesen. Das war die Abmachung. Peter: Eines seiner Schlüsselerlebnisse war, dass er mit 14 einem anderen Jugendlichen beinahe ein Campingmesser in den Bauch gerammt hätte - wäre da nicht die Gürtelschnalle gewesen. Plötzlich war ihm klar, was er da fast getan hätte. Sein Leben ist von da an ganz anders geworden.

Carson wurde damals zu einem sehr gläubigen Menschen, wie auch Sie es sind. Hat das Ihre Entscheidung, ihn die Kinder operieren zu lassen, beeinflusst?

Peter: Es ist beruhigend für uns, dass er seine Arbeit in dem Bewusstsein macht, dass nicht er der Chirurg ist, sondern Gott. Dass Gott ihm nur die Hände dafür gegeben hat. Dass er zwar sein Bestes gibt, aber weiß, dass es letztendlich bei Gott liegt, wie die Operation ausgeht.

Wer operiert - Gott oder Carson?

Nelly (lacht): Am Tisch werden natürlich leibhaftige Ärzte stehen. Aber Gott wird seinen Segen dazu geben.

Nach der Hauterweiterung sehen die Köpfe der Kinder doppelt so groß aus wie zuvor. Tut es Ihnen weh, sie so zu sehen?

Nelly: Schön ist der Anblick natürlich nicht. Aber weil Lea und Tabea trotz der aufgepumpten Expander so fröhlich sind, lässt sich das ertragen.

Peter: Natürlich gibt es Menschen, die schnell wegschauen, wenn sie uns beim Spaziergang treffen. Oder so tun, als ob sie die Riesenköpfe nicht sehen würden.

Spüren die Kinder die Veränderung?

Nelly: Bestimmt. Aber offenbar empfinden sie sie nicht als sonderlich störend. Sie fassen da auch an und drücken drauf.

Peter: Das war für mich eine Gebetserhörung, dass die Kinder nach dem Einsetzen der Expander in der Klinik nach und nach wieder so fröhlich geworden sind.

Nelly: Nach dem Eingriff haben sie tagelang gewimmert und geweint. Sie waren völlig kaputt, auch seelisch, voller Panik. Da halfen auch keine Schmerz- und Beruhigungsmittel. Ich war geschockt über die Verfassung der Mädchen.

Peter: Uns ist klar, dass das nur ein kleiner Vorgeschmack war auf das, was kommt.

Wer ist der Stärkere von Ihnen beiden in solchen Stresssituationen?

Peter: Nelly. Weil sie schon vorher mehr verarbeitet als ich. Sie rechnet auch jetzt vor dem großen Eingriff mit Schlimmem. Wenn es dann wirklich so kommen sollte, ist sie stärker als ich, weil sie zuvor schon im Kopf alles durchgespielt hat.

Leidet Ihre eigene Beziehung unter der ganzen Anspannung?

Peter: Ja. Sobald man Kinder hat, lebt man für sie. Aber bei uns ist es so, dass wir fast ausschließlich für die Mädchen leben. Wir als Paar kommen sehr kurz.

Nelly: Aber durch die besondere Situation sind wir uns auch sehr nahe. Peter und ich können offen über alles reden, wir sprechen sehr viel miteinander. Was auch daran liegt, dass unsere Zukunft mit so viel Ungewissheit belastet ist.

Welche Fortschritte haben die Zwillinge in den vergangenen Monaten gemacht?

Nelly: Sie sagen Papa und Mama...

Peter: ...die ersten Zähne sind da...

Nelly: ...und sie stellen sich alleine auf alle viere. Sie drehen sie sich auf den Bauch und gehen dann in den Vierfüßlerstand. Die Köpfe bleiben allerdings auf dem Boden liegen. Mit den fast drei Litern Kochsalz-lösung, die unter die Kopfhaut gespritzt wurden, kriegen sie die nicht mehr hoch. Aber sie lachen und sind total zufrieden.

Ist Ihnen bewusst, dass Lea und Tabea bei der Operation schwere Gehirnschäden davontragen können?

Peter: Ja. Doktor Carson hat uns gesagt, dass sie verbluten können. Dass sie erhebliche Folgeschäden haben können.

Nelly: Mir ist in dem Gespräch nochmals ganz deutlich geworden, wie schwierig und gefährlich die Operation ist. Darüber nur zu lesen oder es aus dem Mund des Chirurgen zu hören - das ist etwas ganz anderes.

Peter: Carson hat gesagt, die Operation sei eine der gefährlichsten überhaupt.

Was macht Ihnen am meisten Angst?

Nelly: Dass Carson sagte, er könne während der OP an einen Punkt kommen, an dem er abbrechen muss, die Zwillinge nicht trennen kann. Zu diesem Zeitpunkt nicht, vielleicht aber auch gar nicht. Ich bete, dass dieser Moment nie eintritt.

Reden Sie über den Tod?

Nelly: Ja. Wir beziehen den Tod der Kinder ein in unsere Überlegungen.

Peter: Wenn eines der Mädchen während oder nach der OP sterben sollte oder beide nicht mehr am Leben sein sollten, dann haben wir auf jeden Fall eine sehr schöne Zeit mit ihnen gehabt. Ich würde mir sagen, dass ihnen durch den Tod vielleicht viel Leid erspart worden ist. Gott hat uns diese Kinder gegeben, und wenn sie sterben, hat er sie uns genommen. Dann sind sie bei ihm. Aber er kann die Operation auch wunderbar ausgehen lassen.

Nelly: Egal, wie Gott auf unsere Gebete antwortet, wir müssen lernen, damit umzugehen. Selbst mit dem Tod unserer Töchter.

Aber auch wenn alles gut geht - kann es denn wirklich einen Sinn haben, dass Ihre Kinder so eine schwere Operation durchmachen, so viel Leid ertragen müssen?

Nelly: Wenn nur zwei oder drei Frauen umdenken, weil sie von uns gehört haben, und nicht abtreiben, dann hätte sich unser langer, schwerer Weg schon gelohnt. Weil sie ja bei uns sehen können, dass es selbst in der schlimmsten Situation noch möglich ist, ein Kind anzunehmen und die Hoffnung nicht zu verlieren.

Gab es in den letzten Tagen einen Moment, in dem Sie überlegt haben, ob Sie sich nicht doch noch gegen die lebensgefährliche Operation entscheiden sollten?

Nelly: Für mich nicht. Wir sind jetzt schon so weit gegangen auf diesem Weg, da möchte ich nichts rückgängig machen.

Peter: Bei mir hat sich der Gedanke manchmal schon eingeschlichen, aber immer nur kurz. Wenn ich sehe, wie fröhlich Lea und Tabea sind und wie sie versuchen, sich zu bewegen, dann weiß ich: Man muss ihnen die Chance geben auf ein normales Leben.

Von den weltweit 64 Kindern, die am Kopf zusammengewachsen waren und getrennt wurden, sind 30 während des Eingriffs oder später an den Folgen gestorben. Nur von sieben ist bekannt, dass sie die Operation ohne bleibende Schäden überstanden haben. Erschrecken Sie diese Zahlen?

Peter: Ja, die haben uns erschreckt. Aber wir sagen uns immer, jeder Fall ist anders.

Sie haben sich gegen eine Abtreibung entschieden, wollten Leben erhalten. Jetzt riskieren Sie das Leben der Zwillinge. Ein Widerspruch, wie manche unserer Leser meinen?

Nelly: Nein. Gott hat uns diese Kinder gegeben, ihre Abtreibung wäre Mord gewesen. Er hat uns aber auch einen Verstand gegeben, um nach Lösungen zu suchen. Wenn uns die Spezialisten gesagt hätten, die Aussicht, dass sie überleben, ist relativ gering, dann hätten wir uns gegen den Eingriff entschieden. So aber gibt es die Chance, dass sie leben und dass sie sich nicht ihr Leben lang auf allen vieren fortbewegen müssen. Kinder, die mit einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen sind, werden auch operiert. Da entscheiden sich die Eltern doch auch nicht gegen den Eingriff, weil er lebensgefährlich ist.

Peter: Und es war keine Entscheidung, die wir über Nacht getroffen haben. Es hat lange, lange gedauert, bis wir uns dazu durchgerungen haben.

In Internetforen und Leserbriefen gab es viel Anteilnahme und Zustimmung, aber auch harte Vorwürfe: Weil Sie sich gegen die Abtreibung entschieden hätten, müssten "die armen Kinder nun den Preis zahlen für eine egoistische Gottgläubigkeit". Man warf Ihnen vor, Sie hätten nie darüber nachgedacht, was ein Leben als siamesischer Zwilling bedeutet. Verletzt Sie das?

Peter: Ja, das war schon hart.

Nelly: Ich war darauf vorbereitet, dass nicht die ganze Welt sagen würde: "Ja, hurra, die haben es genau richtig gemacht." Aber ich verstehe nicht, warum unsere Entscheidung egoistisch gewesen sein soll. Denn es wäre viel einfacher, ohne diese Kinder zu leben. Ich kann den Leuten, die so darüber urteilen, nur wünschen, dass sie nie in solch eine Lage kommen.

In einem Brief heißt es: "Mir standen die Haare zu Berge angesichts des unfassbaren Leids, das man diesen Mädchen wissentlich antut, weil ein vorgeblicher Gott dies so will." Was würden Sie antworten?

Peter: Das sind Menschen, die keinen Glauben haben. Aus ihrer Sicht verstehe ich die Frage. Mein Standpunkt ist: Gott vertraut mir diese Kinder für eine Zeit an. Er lässt es zu, dass sie leiden, und er weiß, warum. Und ich werde es spätestens dann wissen, wenn ich Gott begegne. Irgendwann werde ich ihn selbst fragen können.

Nelly: Es sagt sich leicht, aus Liebe zu den Kindern und um ihnen Leid zu ersparen, hätte man sie abtreiben müssen. Einmal angenommen, die Trennung gelingt: Dann werden Lea und Tabea dankbar sein, dass sie leben können. Und außerdem wird oft übersehen, wie sehr Mütter nach einer Abtreibung leiden. Viele nimmt das ein Leben lang mit.

Haben Sie konkret darüber nachgedacht, was für ein schreckliches Leben den Kindern bevorstünde, falls man sie nicht trennen kann? Dass sie womöglich 60 oder 70 Jahre als Pflegefälle leben müssen?

Nelly: Mir war schon bewusst, dass man sie vielleicht nicht trennen kann, dass wir sie lebenslang pflegen müssen. Aber ich habe mir gesagt, das sind meine Töchter, und das werde ich auf mich nehmen.

Peter: Aber da gab es auch Benjamin Carson, der schon vor der Geburt anhand von hochauflösenden Ultraschallbildern gesagt hat, er gehe davon aus, dass es eine gute Chance gibt, die Kinder zu trennen.

Sind Sie froh, dass es jetzt losgeht? Oder überwiegt die Angst?

Nelly: Einerseits würde ich mich gerne per Knopfdruck in den Oktober befördern, in die Zeit nach der Operation. Andererseits würde ich sie auch noch gerne hinausschieben, weil wir nicht wissen, wie sie endet. Jetzt sind Lea und Tabea so gut drauf. Sie machen Faxen, sie haben so viel Lebensfreude. Wir lachen so viel gemeinsam. In solchen Augenblicken denke ich dann, es kann gar nicht anders sein, als dass die OP gut geht.

Welches ist der Moment, den Sie am sehnsüchtigsten erwarten?

Nelly: Der allerschönste Moment wird sein, wenn wir die Kinder mit in unsere Wohnung in Baltimore nehmen können.

Peter: Für mich wäre der schönste Augenblick, wenn Benjamin Carson zu uns kommt und sagt, alles ist gut gelaufen, die Trennung ist gelungen. Auch wenn ich weiß, dass es ein langer Weg sein wird, bis die Kinder wieder stark sein und keine Schmerzen mehr haben werden.

Haben Sie die Ärzte gefragt, ob Sie über einen Monitor die OP verfolgen dürfen?

Nelly: Nein. Und das würde ich auch nicht wollen. Es war für mich schon schrecklich genug, als ich mir vor kurzem im Fernsehen die NBC-Dokumentation über die Trennung der siamesischen Zwillinge in New York angeschaut habe. Als die Ärzte "one, two, three" riefen und die Tische auseinander fuhren und man in die offenen Köpfe schauen konnte.

Die Operation kann 24 Stunden dauern, aber auch drei Tage. Werden Sie versuchen, sich abzulenken?

Nelly: Nein, das wird nicht klappen.

Peter: Ich werde vielleicht für Lea und Tabea etwas aus Holz basteln. Dabei kann ich trotzdem an sie denken. Nelly: Ich werde wahrscheinlich sticken. Dabei muss ich mich nicht konzentrieren, meine Gedanken sind frei für die Kinder.

Können Sie es sich schon vorstellen, wie das sein wird, zwei voneinander unabhängige Kinder zu haben?

Nelly: Ja. Ich stelle mir manchmal zwei Kinder vor mit Riesenköpfen und Verbänden in zwei Krankenhausbetten. Zwei Kinder, die sich anschauen. Aber ich denke auch schon weiter: Wie es sein wird, wenn wir in Lemgo im Garten spielen, Freunde besuchen, einfach endlich ganz normalen Alltag haben. Peter: Dann werde ich mit meinen Töchtern das Leben entdecken. Wir werden alles nachholen, was sie bisher verpasst haben.

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Interview: Anette Lache und Frank Ochmann

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