Es war ein eher überraschender Appell und ein überaus wichtiger dazu, den der türkische Präsident vor wenigen Tagen per Interview seinen Landsleuten und deren Nachkommen bei uns zurief: Sie sollten "Deutsch lernen, und zwar fließend und ohne Akzent." Wie bedeutend die sprachlichen Fähigkeiten auch weit über die reine Verständigung hinaus sind, wird erst mit einem Blick auf die Forschung zur Kindesentwicklung klar. Denn sehr früh prägt die "Muttersprache" einen Menschen. Schon vor der Geburt beeinflusst sie das Gehirn, auch das "soziale Gehirn".
So fand ein deutsch-französisches Forscherteam im vergangenen Jahr, dass sich an der Melodie des Schreiens von Neugeborenen erkennen lässt, welcher Sprache die Kleinen während ihrer embryonalen Phase hauptsächlich ausgesetzt waren. Während des letzten Drittels der Schwangerschaft sind Kinder im Mutterleib nämlich bereits in der Lage, sich akustische Reize aus ihrer Umgebung zu merken. Das gilt insbesondere für Melodien, musikalische und auch rein sprachliche. Und was Babys wahrnehmen und sich merken, das machen sie auch gern nach. Die Schreie von je 30 französischen und deutschen Neugeborenen wiesen jedenfalls bei einer akustischen Frequenzanalyse bereits das typische Muster ihrer jeweiligen Muttersprache auf: Französische Babys schreien bevorzugt mit steigender Tonhöhe am Ende, deutsche mit fallender.
Zunächst sind alle sprachliche Weltbürger
Auch in den Monaten nach der Geburt spielt die Sprache eine zentrale Rolle bei der Entwicklung. Zunächst sind alle Kinder sprachliche Weltbürger. Und darum sind sie anfangs auch noch in der Lage, Laute aus allen Sprachen der Welt unterscheiden und lernen zu können. Erst danach schließt sich ein erstes Lernfenster, und es steht ein für alle Mal fest, welche Muttersprache zu einem Menschen gehört. Spätestens nach einem Lebensjahr tritt darum zum Beispiel die für Asiaten so typische Ununterscheidbarkeit von "l" und "r" auf. Die ist nicht etwa angeboren, sondern wird erworben. Wachsen etwa Kinder japanischer Eltern in einer englischen oder auch deutschen Sprachumgebung auf, können sie später durchaus zwischen "Lot" und "Rot" unterscheiden.
So bildet sich die Muttersprache, und so bilden sich auch Dialekte innerhalb ein und derselben Sprache. Wie wir sprechen, entscheidet schließlich auch darüber, welchen Gruppen wir zugerechnet werden. Und darum ist es keineswegs egal, ob wir "isch", "ick" oder "ich" sagen, wenn wir von uns selbst sprechen. Denn das kann bereits darüber entscheiden, wer zu uns Vertrauen fasst und wer nicht.
Eine Reihe von Experimenten bestätigt inzwischen, dass jemand, der 'genau wie ich' spricht, schon bei Babys einen klaren Vertrauensvorschuss bekommt. Obwohl die Kleinen selbst noch gar nicht sprechen können, muttersprachlich aber eben schon vorgeprägt sind. Und das ist von enormer Bedeutung. Denn wer vertrauenswürdig ist, gilt auch als bevorzugte Lernquelle und wird von da an eifrig imitiert. Kleine Kinder machen nicht deshalb alles Mögliche nach, weil sie noch so dumm sind. Imitiert wird vielmehr aus einem angeborenen Antrieb heraus, weil Erwachsene ja ganz offensichtlich einen Weg gefunden haben, in einer oft feindlichen Umwelt am Leben zu bleiben. Es darum wie sie - die Vertrauenswürdigen - zu halten, ist also ein nachvollziehbarer Gedanke. Wenn es aber meine Muttersprache ist, an der ich zu allererst mein Vertrauen orientiere, dann werde ich mich auch sozial denen anpassen, die so sprechen wie ich.
Frank Ochmann
Der Physiker und Theologe verbindet als stern-Redakteur natur- und geisteswissenschaftliche Interessen und befasst sich besonders mit Fragen der Psychologie und Hirnforschung. Mehr auf seiner Homepage.
Sprachliche Brücken
Selbst für Dialekte und Akzente gilt das, wie die Psychologin Katherine Kinzler von der University of Chicago zeigen konnte. Um herauszufinden, ob das "Wie" wichtiger ist als das "Was", wurden ihre kleinen Probanden Sprechern mit unterschiedlichen Akzenten ausgesetzt, die mal sinnvollen und dann sinnlosen Text sprachen - jeweils aber auf ihre eigene Art. Und die entschied tatsächlich darüber, wem anschließend vertraut wurde. Zum Beispiel als Helfer bei der Aufgabe, die Funktion eines noch nie gesehenen gelben Plastikteils aufzuklären. Wer wie das Kind selbst gesprochen hatte, bekam klar den Vorzug. So wurden in diesem Fall Kinder mit einem spanischen Akzent von Altersgenossen mit englischer Muttersprache eher ausgegrenzt und umgekehrt ebenso.
Bei der Frage ob und wie früh und wie gut Migranten bei uns Deutsch lernen, geht es also nicht nur um die Verständigung mit dem Busfahrer oder auf dem Amt. Es geht in erster Linie um Vertrauen und darum, wie Kinder bei uns aufwachsen. Und wir tun gut daran, das Erlernen und weitere Pflegen (!) der deutschen Sprache von jeglichem ideologischen Ballast zu befreien. Dass wir eine gemeinsame Sprache haben und an unsere Kinder weitergeben, ist die beste Voraussetzung dafür, dass die auch später miteinander auskommen. Am Deutschen vorbei - "fließend und ohne Akzent", wie Präsident Gül sagt - gibt es in diesem Land jedenfalls keinen Weg in eine gemeinsam gestaltete und für alle gedeihliche Zukunft.
Literatur:
- Hespos, S. 2009: Language Acquisition: When Does the Learning Begin? Current Biology 17, R628-R630
- Kinzler, K. D. et al. 2007: The native language of social cognition. PNAS 104, 12577-12580
- Kinzler, K. D. et al. 2009: Accent trumps race in guiding children’s social preferences. Social Cognition 27, 623–634
- Kinzler, K. D. et al. 2010: Children’s selective trust in native-accented speakers. Developmental Science (im Druck, online vorab: DOI: 10.1111/j.1467-7687.2010.00965.x)
- Kuhl, P. K. 2010: Brain Mechanisms in Early Language Acquisition. Neuron 67, 713-727
- Mampe, B. et la. 2009: Newborns’ Cry Melody Is Shaped by Their Native Language. Current Biology 19, 1994–1997
- Schlötzer, C. & Strittmatter, K. 2010: „Wer sich zur Welt öffnet, muss mit verschiedenen Religionen leben“ – Interview mit Abdullah Gül. Süddeutsche Zeitung v. 16.10., 8