Das welke Blatt sieht aus wie all das Laub drum herum: Verbleichendes Grün mit unregelmäßigen braunen Flecken, deutlich zeigen sich Mittelrippe und Adern. Die Ränder sind stark ausgefranst; offenbar haben Raupen kräftig daran geknabbert.
Plötzlich bewegt es sich, beginnt zu wandern. Unglaublich! Das Blatt ist ein Tier mit sechs staksigen Beinen, breitem Rücken und schmalem Kopf. Phyllium bioculatum heißt das skurrile Geschöpf, auch Gespenstschrecke genannt. Der in Malaysia beheimatete Krabbler labt sich an Laub und ist quicklebendig, weder angefault noch angefressen - alles nur Tarnung. Perfekteste Täuschung.
Eine Rarität im Tierreich? Von wegen! Mehr als 2500 verschiedene Gespenstschrecken-Arten leben in den tropischen und subtropischen Regionen unseres Globus, ausnahmslos als Simulanten. Sie ähneln Stängeln, Ästen oder anderen Pflanzenteilen.
Dazu kommt noch jede Menge anderes Getier mit einem Riesenrepertoire von Täuschungstricks. Käfer imitieren Steine, Baumfalter sehen aus wie Rinde, und Fangschrecken verkleiden sich als Orchideenblüten. Die Liste der Mogler versetzt selbst Biologen immer wieder in ehrfurchtsvolles Staunen.
<bIm Tierreich herrschen Lug und Trug> "Es gibt nur ein lügenhaftes Wesen auf der Welt. Es ist der Mensch. Jedes andere ist wahr und aufrichtig", behauptete der Philosoph Arthur Schopenhauer im 19. Jahrhundert. Da kannte er die Kreatur in Wald und Flur aber schlecht. Schummler ohne Ende sind die Tiere. Lug und Trug herrschen in ihrem Reich. Eine Menge ist dort anders, als es scheint. Was wie ein Spiel aussieht, ist bitterer Ernst: Gemogelt wird, um das eigene Leben zu retten, Feinde von Fressattacken abzuhalten. Und manchmal auch, um selbst Beute zu ergattern.
Erfunden hat den animalischen Schwindel die Evolution. Im Jahrmilliarden währenden Konkurrenzkampf mussten die Mitglieder der Fauna immer wieder neue Überlebensstrategien entwickeln. Und da stellte sich beim täglichen Fressen und Gefressen-Werden heraus: Besonders effektiv ist es, die Sinnesorgane des Gegenübers zu verwirren, sich zu tarnen und den anderen zu täuschen. Doch weil es den Irregeleiteten irgendwann gelang, die Betrugsmanöver zu durchschauen, musste ständig nachgerüstet werden. Immer ausgefeilter wurden die Techniken: je raffinierter der Beschiss, desto besser die Wirkung.
Herausgekommen sind die verschiedensten Betrüger-Maschen. Der Bluff etwa. Motto: Feind verwirren. Bestens beherrscht das der Tiefsee-Tintenfisch. Bei einem Angriff pumpt der Kopffüßer eine Wolke von Leuchtbakterien ins Meer. Der Aggressor stürzt sich aufs Phantom, das clevere Weichtier schwimmt ungeschoren von dannen.
Nachahmen und Trittbrettfahren
Ein anderer Kniff: Nachahmen und Trittbrettfahren. Geniales Beispiel dafür ist der in Afrika flatternde Schmetterling Hypolimnas misippus, ein harmloses buntes Tier, das dem giftigen Falter Danaus chrysippus in Flügelfarben- und -musterung zum Verwechseln ähnelt. Mit diesem Trick entgeht er hungrigen Vögeln, die ihn für den äußerst unbekömmlichen Doppelgänger halten.
Die wohl populärste Schummelpraktik aber ist Sich-in-Luft-Auflösen, Nicht-gesehen-Werden, die perfekte optische Anpassung an den Lebensraum. Eisbären, Polarfüchse oder Schnee-Eulen beherrschen das mit einfachsten Mitteln. Weißes Fell oder Gefieder lässt sie in ihrer eisigen Umwelt für Feindesaugen so gut wie verschwinden. Auch der Leopard, die Giraffe oder das Reh haben sich mit ihren braunen, gefleckten Hüllen simple, aber wirkungsvolle Schutztrachten zugelegt - in ihren Revieren eine optimale Camouflage.
Öko-Deko schützt vor Verfolgern
Einige Arten allerdings haben evolutionäre Spitzenleistungen vollbracht: Tarnkappen vom Feinsten. Vor allem Meerestiere sind da wahre Meister. Etwa der vor Südaustralien lebende Fetzenfisch. Sein filigraner Körper trägt zahlreiche braungelbliche Hautlappen. Bis in alle Einzelheiten sind die den Verästelungen von Tangbüscheln nachgebildet. Wenn er so durch die submarinen Pflanzenwiesen paddelt, ist der Fisch von einem Algenknäuel in keiner Weise zu unterscheiden.
Besonders gewieft verkleidet sich die Schmuckkrabbe. Der vor der kalifornischen Küste lebende Krebs pickt alles Mögliche aus seinem Lebensraum auf: Tangstücke, Seeanemonen, Schwämme und Moostierchen. Die befestigt das Krustentier dann an klettbandähnlichen Borsten auf seinem Rückenpanzer. Eine Öko-Dekoration, die ihn für jeden Verfolger unsichtbar macht.
Zu den perfekten Anpassungs-Schwindlern gehört auch der Seeteufel oder Anglerfisch. Er nutzt seine Tarnung, um Beute zu machen. Der bis zu 1,70 Meter lange Meeresbewohner kann seine Körperfarbe dem jeweiligen Untergrund vollendet anpassen. Darüber hinaus ist sein Leib mit kleinen, sich ständig ein wenig bewegenden Hautläppchen übersät. So löst sich seine Kontur völlig auf, wenn er auf dem Meeresboden liegt.
Doch damit nicht genug: Ein Teil der Rückenflosse des Seeteufels ist verlängert wie eine Peitsche, am Ende sitzt eine wurmähnliche Verdickung. Diese Köderattrappe positioniert der Fisch, wenn er sich auf die Lauer gelegt hat, genau über seinem riesigen Maul. Dann muss er nur noch in aller Seelenruhe warten, bis ein Opfer vorbeischwimmt und auf den Anglertrick hereinfällt.
Die fantastischen Vermummungen der Tiere sind nicht nur ein spannendes Forschungsgebiet für Biologen, sondern auch eine Herausforderung für Naturfotografen. Der Amerikaner Art Wolfe hat sich ihr gestellt und die cleveren Kreaturen in ihren Revieren ausfindig gemacht. Herausgekommen sind erstaunliche Suchbilder, die er in dem Buch "Kunst der Tarnung" versammelt hat - eine Galerie großformatiger Fotos von animalischen Tricksern und Fälschern.