Krieg in der Ukraine "Atemberaubendes Maß an Dilettantismus": Warum sich russische Truppen mit Zweigen und Teppichen tarnen

Ein russischer Militärlaster in der russischen Region Rostow an der Grenze zur Ukraine
Äste statt Tarnnetze: Ein russischer Militärlaster Ende Februar in der südrussischen Region Rostow an der Grenze zu den Separatistengebieten in der Ukraine
© AFP
Russland ist der Ukraine militärisch haushoch überlegen. Dennoch hat die russische Armee bei ihrem Krieg gegen den Nachbarn große Probleme. Das zeigt sich auch an ihrer Tarnung.

Russland hat seine Armee nach dem Georgienkrieg 2008 umfassend reformiert und modernisiert. Zeitweise steckte der Kreml 160 Milliarden Dollar pro Jahr in sein Militär. Es sei in alle Bereiche investiert worden, von der Modernisierung der Nuklearstreitkräfte und der russischen Luft- und Raumfahrtkräfte bis hin zu den Bodentruppen und der Marine, erklärte Michael Kofman, Direktor des US-Forschungszentrums Center for Naval Analyses und Experte für das russische Militär, dem US-Magazin "The New Yorker". Sein Hightech-Kriegsgerät präsentiert Moskau alljährlich am 9. Mai, dem "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg, in Paraden und Waffenschauen der Weltöffentlichkeit.

Im Krieg gegen die Ukraine ist davon jedoch wenig zu sehen. Stattdessen hat Russland dort teilweise bereits vor Jahrzehnten entwickelte Schützenpanzerwagen, Panzer und andere Kettenfahrzeuge im Einsatz, die manchmal einfach im Feld liegen bleiben. Bilder zeigten, dass Flugzeuge der russischen Luftwaffe teilweise mit zivilen GPS-Geräten navigierten, berichtete der Politikwissenschaftler der Universität der Bundeswehr München, Frank Sauer. In abgestürzten Wracks habe man sogar Zettel gefunden, auf die per Hand Koordinaten geschrieben waren. Sogar an Lkw für den Materialtransport und an verschlüsselten Funkgeräten fehlt es Putins Soldaten.

Und selbst über eines der simpelsten und grundlegendsten Kriegsmaterialien scheint Moskaus mächtige Armee nicht in ausreichendem Maße zu verfügen: Tarnung.

"Atemberaubendes Maß an Dilettantismus"

Die russischen Truppen in der Ukraine versuchten, Panzer und andere gepanzerte Fahrzeuge mithilfe von Ästen, Stroh und sogar Teppichen zu verbergen, um sich vor Entdeckung und Angriffen zu schützen, berichtet die "Washington Post". Beobachter sprächen unter Hinweis auf entsprechende Videos und Bilder aus dem Kriegsgebiet von einem "atemberaubenden Maß an Dilettantismus".

Auf einem Video, das angeblich während eines Gefechts von einem russischen Soldaten aufgenommen wurde, der inmitten einer Ansammlung gepanzerter Transporter Deckung suchte, sind demnach Zweige eines Nadelbaumes zu sehen, die notdürftig an der Flanke eines der Fahrzeuge angebracht wurden. Das "riecht nach Verzweiflung", zitiert die "Washington Post" Mike Jason, ein pensionierter Panzeroffizier der US-Armee, der im Irak und in Afghanistan gedient hat.

Andere Aufnahmen zeigen der Zeitung zufolge gepanzerte Transporter, die mit etwas, das aussehe wie Heu von einem Bauernhof, bedeckt seien. In einem weiteren Video, das in den sozialen Medien geteilt wurde, seien russische Truppen zu sehen, die ein Fahrzeug mit Teppichen oder einer anderen Art von schwerem Stoff abdeckten.

Dies könnte ein Versuch sein, die Wärmeausstrahlung des Fahrzeugs zu verringern oder zu verzerren, mit deren Hilfe Panzerabwehrwaffen wie die von den USA an die Ukraine gelieferten Javelin-Raketen ihre Ziele anpeilen, vermutet Jason. Eine veränderte Wärmesignatur könne es einem Schützen erschweren, ein russisches gepanzertes Fahrzeug von einem zivilen Auto zu unterscheiden, obwohl ein geschulter Aufklärer zwischen einem Wärmebildgerät und einem Fernglas hin- und herwechseln würde, um andere Anzeichen für feindliche Aktivitäten zu erkennen.

Russland auf Ukraine-Krieg mangelhaft vorbereitet

Tarnung für Einsatzkräfte oder Ausrüstung ist ein Basisbestandteil der Kriegsführung. Sie funktioniert durch die Verzerrung von Formen und die Verringerung von Wärmesignaturen und kann zum Beispiel den Besatzungen eines Fahrzeugs wichtige Sekunden verschaffen, um auf einen Angriff zu reagieren oder selbst anzugreifen. Im Zeitalter von Drohnen, Satellitenbildern und Infrarotsichtgeräten ist sie allerdings nur noch von begrenztem Nutzen und dient vor allem dazu, das menschliche Auge zu täuschen.

Das taktische Vorgehen des US-Militärs besteht Jason zufolge darin, ganze Fahrzeuge mit leichten Tarnnetzen zu umhüllen, wenn sie sich nicht bewegen, auch wenn dies nur für kurze Zeit geschieht. Ukrainische Einheiten verwendeten Beobachtungen zufolge Kombinationen aus Netzen und Laub, um die Form von gepanzerten Fahrzeugrümpfen zu verzerren. Kiefernzweige, wie sie die russischen Truppen in der Ukraine benutzten, seien zwar "besser als nichts", so Jason, sie deuteten aber darauf hin, dass die betreffende Einheit keine grundlegende Kompetenz für die Verwendung von Tarnungen besitze oder einfach nicht über die richtige Ausrüstung verfüge.

Deepfake-Videos als Propagandawaffe im Krieg
Deepfake-Videos als Propagandawaffe im Krieg
Achtung, diese manipulierten Videos von Putin und Selenskyj sind Kriegspropaganda

Ihr offensichtlicher Mangel an modernen Tarnnetzen ist nach Ansicht von Experten ein weiterer Beweis dafür, wie schlecht russische Kommandeure auf den Krieg vorbereitet gewesen seien, wie die "Washington Post" weiter schreibt. Dies bestätige die Überzeugung der Vereinigten Staaten und Europas, dass Präsident Wladimir Putin und seine hochrangigen militärischen Befehlshaber den starken Widerstand, dem ihre Truppen ausgesetzt sind, nicht vorausgesehen hätten.

Rob Lee, Militärexperte und leitendes Mitglied des US-Thinktanks Foreign Policy Research Institute, sieht das der Zeitung zufolge ähnlich: Lee deute Russlands Probleme mit der Tarnung als Hinweis darauf, dass die Befehlshaber ihre Truppen mangelhaft präpariert und angeleitet haben könnten – oder dass sie von Anfang an von einem einfachen Krieg und einem schnellen Fall der Regierung in Kiew überzeugt gewesen seien.

Kommerzielle und kleinere taktische Drohnen, die den ukrainischen Streitkräften von der Türkei zur Verfügung gestellt worden seien, hätten es es ihnen ermöglicht, russische Truppen ausfindig zu machen, um sie aus der Luft oder mit Artillerie anzugreifen, erklärte der Militärexperte die Situation. Das könnte einige russische Einheiten dazu veranlasst haben, auf provisorische Lösungen zurückzugreifen, wie zum Beispiel ihre Fahrzeuge mit Sträuchern zu tarnen oder sie einfach von der Straße zu nehmen und in den Bäumen zu verstecken. "Russland", fügte Lee hinzu, "hat keine gute Antwort".