Stell dir vor, Du fährst zum Weltklimagipfel und kannst vor Ort dann doch nur online an den Veranstaltungen teilnehmen. Klingt absurd, hat sich an den ersten Tagen des Weltklimagipfels in Glasgow aber so ereignet. Grund genug für das Climate Action Network (CAN), der Präsidentschaft der COP26 schon am zweiten Tag ihren Spott-Preis "Fossil des Tages" zu verleihen. Wegen teils chaotischer Zustände stehen die Organisatoren der UN-Klimakonferenz massiv in der Kritik.
Das CAN kritisierte vor allem, dass Vertretern der Zivilgesellschaft, die von weit her angereist seien, gesagt werde, es gebe keinen Platz in den Veranstaltungen und sie sollten diese online anschauen. "Da hätten wir gleich zuhause bleiben können – obwohl: Dann hätten wir das Wetter verpasst", spottete das Network mit Blick auf den herben schottischen Herbst. Man hoffe, dass der Negativpreis ein "Weckruf" für die Organisatoren sei.
Weltklimagipfel: Die britische Kunst des Schlangestehens
"Es ist wahr", zeigte sich auch die US-Klimaaktivisten Alexandria Villasenor in einem Tweet schockiert, "es gibt einen einzigen Eingang für 20.000 Teilnehmer." Sicher vier Stunden lang habe sie an den ersten beiden Gipfeltagen angestanden. "Es ist ein Chaos und ein Versagen der Veranstalter", wettert Villasenor. Das Climate Action Network verfiel angesichts der Szenen vor dem Eingang zum Gipfelgelände in bittere Ironie. Die versprochene inklusive Einbindung aller Interessen und Aktivisten zeige sich derzeit vor allem in dem, was die Briten am besten könnten: nämlich "in der Kunst des Schlangestehens", hieß es.
Es wurden sogar schon Erinnerungen an die als gescheitert geltende Weltklimakonferenz in Kopenhagen 2009 wach. "Ich war überrascht, wie viele Parallelen es zwischen der COP26 und der desaströsen COP15 in Kopenhagen gibt", schrieb Asad Rehman von "War on Want", einer britischen Organisation zur Armutsbekämpfung, in einem Tweet. Nicht nur, dass beide Gipfel sehr kalt und nass (gewesen) seien. Er kritisierte vor allem die schlechte Planung grundlegender Dinge wie bezahlbare Unterkünfte vor allem für Teilnehmende aus dem globalen Süden.

Ministerin im Rollstuhl scheitert an Zugang
Als grundlegend gilt auf einer UN-Konferenz eigentlich auch barrierefreier Zugang zu den Tagungsveranstaltungen. Doch fehlende Rampen für Rollstühle hätten beinahe schon zu diplomatischen Verstimmungen geführt. So konnte die israelische Energieministerin Karine Elharrar nach eigenen Angaben am vergangenen Montag nicht an der Weltklimakonferenz teilnehmen. Elharrar: "Es ist traurig, dass die UN, die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen fördert, sich im Jahr 2021 nicht um Barrierefreiheit bei ihren Veranstaltungen kümmern." An mehreren Eingängen sei sie gescheitert, letztlich sei ihr nach zwei Stunden nichts anderes übrig geblieben, als in ihr Hotel zurückzukehren.
Zu allem Überfluss bewies Großbritanniens Umweltminister George Eustice wenig Fingerspitzengefühl. Zwar bedauerte er den Vorfall wie auch Premier Boris Johnson. Er machte aber auch mangelnde Kommunikation von israelischer Seite dafür verantwortlich. "Was normalerweise in dieser Situation passieren würde, ist dass Israel uns über diese besondere Anforderung für ihre Ministerin informiert hätte", sagte Eustice im BBC-Radio. Allerdings gelten barrierefreie Zugänge zu Tagungsräumen bei UN-Veranstaltungen als obligatorisch. Das sahen letztlich auch die Organisatoren so: "Die COP26 muss inklusiv und für alle zugänglich sein, und der Veranstaltungsort ist darauf ausgelegt, dies zu ermöglichen", hieß es in einer Stellungnahme, die auch eine Entschuldigung an Elharrar enthielt.
"Es ist, als wollte man in einen Nachtclub"
Das Versprechen, dass der Gipfel "für alle zugänglich" sein muss, wurde laut Berichten von Tagungsteilnehmern allerdings immer wieder gebrochen. "Es wurden mehr Menschen akkreditiert als in den Veranstaltungsort gelassen werden", berichtete Aktivistin Villasenor. "Du kannst nicht zu Deiner Veranstaltung oder Deinem Meeting nachdem Du den ganzen Weg hierhergekommen bist? Echt schade, aber wähl' Dich doch vom Hotel ein", ätzte sie. Und Asha Rehman twitterte: "Es ist, als würde man versuchen in einen Nachtclub zu kommen. 'Sorry Kumpel, ist voll, einer raus, einer rein'" Die britische Regierung sollte allen ihre Unkosten erstatten, die nach Glasgow gekommen sind und nun in ihren Hotelzimmern hocken müssten, so Rehman.
Die langen Warteschlangen, die drangvolle Enge und die Menschenmassen am und vor dem Tagungszentrum sorgen inzwischen für eine weitere Sorge: Könnte der Weltklimagipfel zu einem Superspreader-Event werden? "Das ist wirklich besorgniserregend, ich beobachte all das sehr ängstlich, weil ich weiß, wie fragil die Situation ist", sagte die Forscherin Devi Sridhar von der Universität Edinburgh am Mittwoch in einem BBC-Interview. Es sei das "schlechteste Timing aller Zeiten" für ein solches Treffen in einer Pandemie, sagte Sridhar, erkannte aber die Dringlichkeit angesichts der drohenden Klimakatastrophe an.
Mediziner in Sorge vor einem Corona-Ausbruch
Am Einlass des Zentrums muss täglich ein negativer Corona-Schnelltest vorlegt werden. Im Vorfeld hatte der Gastgeber zudem eine vollständige Impfung empfohlen. Auch der schottische Gesundheitsminister Humza Yousaf räumte ein, die Konferenz stelle ein Covid-19-Risiko dar. Es bestehe die Gefahr, dass sich das Virus von den Delegierten aus auf die lokale Bevölkerung ausweite. Es gebe bereits erste Anzeichen, dass die Zahlen wieder steigen könnten.
Aktivistin Alexandria Villasenor kritisierte die Corona-Tests an sich – und zwar aus Umweltschutzgründen: "Schon gewusst? Jeden Tag, bevor wir auf den Gipfel gehen, müssen wir einen Corona-Schnelltest machen", twitterte die 16-Jährige, "und das ergibt so viel Müll für jedes Kit mal 20.000 Menschen ..."