Mail aus Mumbai Die S-Bahn als Serienkiller

  • von Swantje Strieder
Wer mit Mumbais S-Bahnen fährt, riskiert sein Leben, bis September gab es schon 3000 Tote. Kein Wunder: Die Bahnen platzen aus allen Nähten, aus den Zügen hängen Menschentrauben. Jetzt gibt es die ersten Hightech-Züge aus Deutschland - doch Mumbai bleibt Mumbai.

Am Morgen hatte sie mit ihrem Mann gestritten und jetzt war Nagma Sheikh, eine hübsche junge Frau, mit der Western Line, einer der drei Mumbaier S-Bahnen, unterwegs zu ihren Eltern. Die 22jährige Muslimin mit dem bunten Kopfschleier stand an der auch bei Fahrt geöffneten Tür des überfüllten Vorortzugs. Sie telefonierte gerade aufgeregt auf dem Handy, als sie das Gleichgewicht verlor und kopfüber auf die Gleise stürzte. Keine der Mitreisenden im brechend vollen Frauenabteil wagte es, die Notbremse zu ziehen. Es dauerte lange, viel zu lange, bis Nagma vom Bahndamm an einer belebten Straße ins Krankenhaus transportiert wurde, wo sie ihren schweren Kopfverletzungen erlag.

"Diese Stadt hat kein Herz"

"Ich verstehe nicht, wie so viele Menschen achtlos an meiner schwer verletzten Schwester vorbeigehen konnten," sagt Asma Sheik, 27, erschüttert, "diese Stadt hat einfach kein Herz!" Und keinen Platz! Nicht einmal einen einigermaßen erträglichen Stehplatz für Millionen Pendler. Deshalb die Menschentrauben auf den Trittbrettern, an den offenen Türen, die einen ICE-Schaffner in Mitteleuropa an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen würden.

Nagmas Tod ist kein Einzelfall, Mumbais Züge sind Serienkiller. Im Jahr 2006 kamen 3933 Menschen bei den drei Mumbaier S-Bahnlinien zu Tode, wie die "Times of India" vorrechnete, bis September 2007 waren es knapp dreitausend Bahn-Opfer. Sie werden im Gedränge aus dem Zug gestossen, beim Trittbrettfahren von Strompfeilern geköpft oder, beim Überqueren der Gleise überfahren. Besonders kleine Kinder. Natürlich steht irgendwo an jedem S-Bahnhof ein verblichenes Schild, das davor warnt, was Tausende (auch ich) tun: wenn der einzige Übergang einige hundert Meter weit entfernt ist, bzw. wegen Bauarbeiten gesperrt, dann hüpft man in der Not schnell über die Bahnkörper, die noch aus dem Kolonialreich der Briten stammen. Besonders gefährlich ist die Fahrt auf dem Zugdach, wie es jüngst vier sportliche Teenager machten, um sich Mumbai von oben anzuschauen. Sie wurden vom Starkstromkabel verschmort. Einer von ihnen überlebte, einer starb, die zwei anderen kämpfen mit schwersten Verbrennungen.

Transrapid? Mit offenen Türen

Mumbais Politiker betonen immer gern, dass ihre 19 Millionen-Mega-City doch Weltklasse sei, auf dem Papier haben sie bereits ein modernes Metro-Netz mit über 200 Kilometern Strecke, sogar einen Transrapid wie in Shanghai fertig, wobei die Graphiker auf dem Regierungsprospekt den Hightech-Zug wiederum mit Menschentrauben an der offenen Tür bei 300 Stundenkilometern zeichneten: Mumbai bleibt Mumbai.

Noch jedenfalls bricht das alte Bombay, wie es früher hieß, alle Negativ-Weltrekorde. Die Züge sind solide Altertümer- die meisten Baujahr 1924. Die ersten Fahrkartenautomaten wurden -wann?- vor vier Wochen, nach dem Diwali-Fest aufgestellt. An meiner Station Santa Cruz war der Automat am ersten Tag seines Daseins bereits um 8.10 Uhr kaputt und wurde bis heute nicht repariert. Dafür hat sich ein rührendes altes Bettlerpaar vom Lande davor installiert, um ein bisschen Kleingeld zu erhaschen, das sonst in den Automatenschlitz wandern würde. Und die Schlangen vor den zwei gefängnismäßig vergitterten Fahrkartenschaltern sind genauso lang wie zuvor. Immerhin gibt es jetzt die ersten drei modernen S-Bahn-Züge, die die Firma Siemens gebaut hat, 157 weitere sollen folgen. Meine Freundin Rajeena hat einen ausprobiert und ist begeistert- "Hightech, adaptiert auf Indiens Massen", lobt sie, "die Türen bleiben bei der Fahrt natürlich offen."

16 Menschen pro Quadratmeter

In Mumbai ist das Wort vom Personen-Nahverkehr sehr wörtlich gemeint: voller geht's nirgendwo auf der Welt. Zum Vergleich: Stellen Sie sich einmal mit Leuten, die Sie vorher nicht kannten, zu dritt auf einen Quadratmeter, dann haben Sie gehobene Verhältnisse wie in Bangkoks schönen modernen Skytrains. In Tokyo müssen Sie sich zur Rushhour auf 100x100 cm mit zehn bis zwölf Passagieren auf die Füße treten. Immerhin sind die Züge voll automatisiert und klimatisiert. Und Mumbai? Das ist Nahkampf mit angelegten Ohren und Armen, hier kämpfen 14 bis16 Passagiere auf einem Quadratmeter um Luft, Raum und Menschenwürde.

Hin- und Rückfahrt aus den Betonblocks in den Vororten in die City bedeuten bis zu drei Stunden Stehen, Balancieren, Hangeln, Schwitzen und Japsen, möglichst nahe an den kleinen Ventilatoren. Viehtransport ist ein charmantes Wort dafür, Kühe sind in Indien heilig und die Viecher fallen schließlich nicht zu hunderten aus den Wagons. Und werden von männlichen Passagieren nicht begrapscht. Ich habe anfangs den Fehler gemacht, mit meinem Mann zusammen im Herrenabteil in die Stadt zu fahren. 1. Klasse, außerhalb der Rushhour, bei nur mäßigem Gedränge. Nachdem mich vier Mitreisende gekniffen, gezwickt und mir ihre Aktentasche zwischen die Beine gerammt hatten, ("Ich habe gar nichts davon gemerkt!" sagte mein Mann, logo!) beschlossen wir, fortan getrennt in die Innenstadt zu reisen. Im Frauenabteil habe ich meine Ruhe vor männlichen Fans und stets nette Gesellschaft von Damen in bunten Saris.

Passagiere blockierten die Bahnhöfe

Müssen die Mumbaier alles schlucken, was ihnen ihre unfähigen Behörden vorsetzen? Schon 1995 hatten erboste Pendler ein paar Wagons in Brand gesteckt, 2005 kam es erneut zu Ausschreitungen, weil die Behörden die Renovierung der Gleise bei Borivli um acht Jahre verzögert hatten. Inzwischen aber hat sich die Zahl der Pendler vervielfacht. Gestern, am Tag der Menschenrechte, haben mal wieder tausende Passagiere der besonders schlimm betroffenen Bahnhöfe Dahisar und Virar spontan protestiert - sie boykottierten ihre Züge zur Arbeit und ließen niemanden einsteigen! Der Protest an einem Montag morgen traf wieder einmal die Ärmsten der Armen. "Wenn ich schon nicht zur Arbeit fahren darf, dann zahlt mir wenigstens die paar Rupien Tagesverdienst, damit meine Familie heute abend nicht hungert," rief ein kleiner Mann in die aufgebrachte Menge, aber niemand hörte ihm zu.