Mail aus Mumbai Indien boomt und hungert

  • von Swantje Strieder
Der indische Tycoon Mukesh Ambani schenkte seiner Frau zum Geburtstag ein Hochhaus - mit Spieletagen für die Kinder und einer fünfstöckigen Tiefgarage. Die Inder auf dem Land hingegen hungern und alles, was sie wollen sind ein Topf mit Linsen, Fladenbrot und Wasser, sauberes Trinkwasser.

"Madam, es ist alles soo teuer geworden," jammert mir Jessy, unsere kleine, dunkelhäutige Haushälterin jeden zweiten Tag vor, "der Liter Öl, billigstes Maisöl, kostet jetzt 114 Rupien (etwa 1,90 Euro), letzten Monat waren es noch 97 Rupien." Plötzlich geht in Indien das Inflationsgespenst um. Für die armen Leute heißt es sparen, sparen, sparen, da wird der imaginäre Gürtel noch enger geschnallt.

Das Kilo Reis ist um fünfzig Prozent gestiegen, Weizenmehl, aus dem die Inderinnen ihr Fladenbrot, "rotis" und "chapatis", backen, ebenfalls. Zwiebeln und Bananen sind viel teuer als im Winter. Für ein Dutzend goldgelber, fingerdicker Bananen in der Größe von Frankfurter Würstchen kassiert der Händler, der jeden Morgen bei uns mit seinem Handkarren vorbeirattert, 30 Rupien, fünf mehr als vor zwei Wochen. Die süßsaftigen safrangelben Mangos, die jetzt im April aus jeder kleinen Marktbude leuchten, sind ein unerschwinglicher Leckerbissen geworden. 40 Rupien (65 Cents) fordert mein Obsthändler im Basar. Nicht für ein halbes Dutzend, sondern für eine einzige Frucht. "Wie soll eine Familie mit zwei Dollar Tageseinkommen das nur bezahlen?", sagt eine grazile selbstbewusste Kundin neben mir im türkisfarbenen Sari, klappt ihre Einkaufstasche zu und schreitet ohne Früchte von dannen.

Ein Hochhaus zum Geburtstag

Was ist los bei euch in Indien, werde ich oft gefragt. Boomt es nun oder hungert es? Die Antwort lautet: beides. Gleichzeitig. Natürlich gibt es seit Jahren gepflegte Wachstumsraten von neun Prozent, der Senex, Indiens Dax, steht höher als vor einem Jahr trotz der globalen Finanzkrise, der indische Staat verteilt Steuergeschenke, besonders vor den Wahlen. Es gibt Luxusmessen mit Vuitton und Co., es gibt Milliardäre, die im Maserati durch den blickdichten Mumbaier Verkehr schleichen und beim Gate of India riesige Yachten auf Reede liegen haben. Tycoon Mukesh Ambani, der zu den reichsten Männer der Erde zählt, schenkt seiner Frau Nita zum Geburtstag nicht etwa einen bescheidenen Klunker von ein paar Karat, sondern ein Hochhaus in bester Lage, das allein über vier Etagen Parkplätze für die Limousinen der engeren Familie, ganze Spiel-Stockwerke für die lieben Kleinen und über einen Hubschrauberlandeplatz für den Herrn Papa verfügt.

"Incredible India", so die Tourismuswerbung, unglaubliches Indien. Mahatma Gandhis Land ist ein einziger Widerspruch. Wer nur die grünen, von Dutzenden von Gärtnern gepflegten Anlagen der IT-Paläste von Bangalore sieht, der glaubt Indien gerne auf dem steilen, unaufhaltsamen Weg zum Hightechland. Schießen nicht in allen größeren Städten die Call-Center aus dem Boden? Sitzen indische Studentinnen nicht in Jeans und flotten Tops in den Coffeeshops und flirten mit den jungen Typen am Nebentisch wie ihresgleichen in Rom, London oder Frankfurt? Hält nicht fast jeder Straßenverkäufer und jede Fischfrau ein ziemlich modernes Handy ans Ohr? Ja, stimmt. Aber steht deshalb schon bald ein Computer in jedem indischen Kinderzimmer? Antwort: Nur in der Fernsehwerbung!

Großteil der Inder unterernährt

In Mumbai leben zwei Drittel aller Kids in den Slums, da gibt es keine Kinderzimmer, keine Privatsphäre und keine Bäder, keine Klos. Da schlafen die Kleinen auf einer Matte neben Eltern und zahlreichen schnarchenden Verwandten in einem einzigen Raum. Wenn ich an der Moschee vom Muslim-Stadtteil Mahim vorbeifahre, dann sehe ich die Schlangen vor den Suppenküchen immer länger werden. Und die Zahl der Obdachlosen, die auf dem Gehsteig, sogar auf dem Mittelstreifen zwischen dem tosenden Verkehr der Ausfallstraße übernachten, wird immer größer.

Doch Hunger, richtigen Hunger, gibt es nicht in den großen Städten, sondern da, wo Reis, Weizen, Zwiebeln, Linsen und Gemüse für uns Stadtmenschen wachsen. In ihrer Modernisierungseuphorie hat die Regierung nämlich "Mother India", Herz, Seele und Rückgrat des Landes sträflich vernachlässigt: die sieben Millionen Dörfer des Subkontinents. "Wir produzieren nur auf dem Papier genug Lebensmittel für alle", so der Agrarexperte M.S. Swaminathan vor dem aufgeschreckten Parlament in Neu Dehli, "in Wirklichkeit ist ein Großteil unserer Bevölkerung völlig unterernährt."

Wenn der "altmodische" Regen fehlt

Große Hoffnungen wie die "Grüne Revolution" (mit neuen Reis- und Weizensorten sollte der Ertrag gesteigert werden) gelten als gescheitert. Wer nach Vidarbha, das Hauptanbaugebiet für Baumwolle nördlich von Mumbai fährt, wird verzweifelte Witwen und hungernde Kinder finden: über tausend Bauern begehen dort Jahr für Jahr Selbstmord und trinken die Pestizide, die sie eigentlich für eine gelungene Ernte mit genmanipuliertem Saatgut bräuchten, weil sie in der Kreditfalle sitzen. Man hat ihnen gesagt, dass sie mit "modernen" Produktionsmethoden wie genmanipuliertem Saatgut, Dünger und Pestizide ganz schnell reich werden könnten. Bleibt aber der "altmodische" Regen aus, ist die Ernte verloren und sie sitzen auf den Schulden. Ihre Witwen haben es verlernt, Lebensmittel für den eigenen Kochtopf anzubauen.

"Dem kleinen Mann auf der Straße ist der Senex (Börsenkurs) egal," schrieb Journalistenlegende Khushwant Singh in der "Hindustan Times" an die Regierung gewandt, "alles, was er will, ist sein dal, also Linsen im Topf, roti , Fladenbrot, und Wasser, sauberes Trinkwasser. Ist das zuviel verlangt?"