Ein junger Aborigine stirbt. Seine Eltern und Freunde machen die Polizei verantwortlich. Kurz danach fliegen Brandsätze und Steine, ein Auto und der Stadtteilbahnhof gehen in Flammen auf. Die meisten Australier betrachten ihre Gesellschaft als fair, mit Chancen für jeden. Aber die Unruhen werfen ein drastisches Schlaglicht auf die Rassenprobleme, die das Land seit der Ankunft der ersten Siedler vor mehr als zwei Jahrhunderten verfolgen.
Schauplatz der neunstündigen Straßenschlacht war das Elendsviertel "The Block" im Stadtteil Redfern, eine Ansammlung heruntergekommener Häuser. Ob der 17-Jährige tatsächlich von der Polizei verfolgt wurde, als er vom Fahrrad und in einen Zaun stürzte, wie dies Freunde erklärten, ist fast nebensächlich. Führende Vertreter der Aborigines, der australischen Ureinwohner, weisen darauf hin, dass die Gründe für die Unruhen weit tiefer liegen. "Die Leute sollten sich nichts vormachen; das ist Australien", sagt Senator Aden Ridgeway, der einzige Aborigine im australischen Bundesparlament. "Die Unruhen in der vergangenen Nacht sind ein extremes Beispiel dafür, wie weit die Entfremdung bei einigen jungen Aborigines geht."
Aborigines-Kultur als Multi-Millionen-Dollar-Industrie
Dabei ist ironischerweise die Kultur der Aborigines eine Multi-Millionen-Dollar-Industrie in Australien. Die Touristen kaufen tausende Bumerangs aus billiger Massenproduktion und traditionelle Malereien. Viele Läden sind nur ein paar Kilometer vom Schauplatz der Unruhen entfernt. Das meiste Geld aus dem Geschäft mit der Kultur der Aborigines geht in Unternehmen, mit denen sie nichts zu tun haben.
Die Touristen bekommen meist auch gar nichts mit von den Lebensverhältnissen der Aborigines und ihrer schlechten medizinischen Versorgung. Seit der Ankunft der Siedler 1788 leben die Ureinwohner eher schlecht als recht neben der Gesellschaft her. Kostspielige Regierungsprogramme, dies zu ändern, scheiterten und machten die Aborigines zu einer Gemeinschaft mit den Problemen der Dritten Welt inmitten von einem der reichsten Länder der Welt.
Heute leben etwa 400.000 Aborigines in einer Gesellschaft von rund 20 Millionen Menschen. Nach Angaben des Statistischen Amtes liegt die Lebenserwartung der Aborigine-Männer bei nur 56 Jahren, 21 Jahre unter dem Landesdurchschnitt. Die Lebenserwartung der Frauen liegt bei 63 Jahren, 20 Jahre weniger als die der Australierinnen. Von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung abgesehen, liegt die Arbeitslosigkeit bei 40 Prozent. Die hohe Arbeitslosigkeit ist auch mitverantwortlich dafür, dass ein Fünftel der Häftlinge Aborigines sind, obwohl sie gerade zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen. Alkoholismus und Drogenkonsum sind die größten Plagen.
Tief sitzendes Misstrauen
Auch sind Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Aborigines gar nicht so selten. Nur finden sie meist abseits der Zentren in kleineren Orten statt, in denen die Medien praktisch nicht präsent sind. So gab es in der vergangenen Woche in der Stadt Katherine im Norden des Landes Proteste, nachdem Polizisten mit ihrem Wagen einen in einer Durchfahrt schlafenden Aborigine überfahren hatten. Die Polizei sprach von einem Unfall. Auch wenn die Behörden hier und auch jetzt in Sydney eine Untersuchung der Vorfälle zusagen, es ist nicht zu erwarten, dass das tief sitzende Misstrauen schnell verschwindet.
Aborigine-Vertreter wie Cliff Foley von der Aboriginal and Torres Strait Islander Commission (ATSIC), einer Art Ureinwohner-Parlament, machen die Kolonisierung Australiens durch die Europäer für die Misere verantwortlich. Und in der Tat würde kein Historiker bestreiten, dass die Ureinwohner dereinst von ihrem Land vertrieben, ihre Kinder weggeschafft und die Aufrührer unter ihnen einfach eingesperrt wurden. "Enteignung, Trennung, Verhaftungen und Rassismus fordern eben ihren Tribut", ist sich Foley sicher.
Doch scheinen "weiße" und "schwarze" Australier nach wie vor uneins, wie das gemeinsame Leben auf dem riesigen Inselkontinent aussehen könnte. So hatte Australiens konservativer Regierungschef John Howard weltweit Empörung geerntet, als er eine Entschuldigung an die Ureinwohner für das Unrecht der Vergangenheit ablehnte. Stattdessen sprach er sich für eine "praktische Versöhnung" aus, bei der sich die ATSIC nicht um Politik, sondern um Wohnungsbau, Gesundheits-, Bildungs- und Beschäftigungsfragen kümmern sollte.
Mehr Gerede als gute Gesten
Viele Aborigines pochen auf die politische Anerkennung, erstes Volk auf dem Kontinent gewesen zu sein. Solange die Ureinwohner nicht ihren Stolz zurückerhielten, müsse jeder "praktische" Ansatz warten, sagen sie. So sieht es auch Lyall Munro, Ältester der Aborigine-Gemeinde von Redfern. "Wir haben all das Gerede über Aussöhnung gehört", sagt er nach den schweren Krawallen von Sonntagnacht. "Aber so etwas wie Aussöhnung gibt es nicht."