Ideen prägen Vorbilder. Vorbilder binden Vertrauen. Vertrauen zeugt Zuversicht. Zuversicht weckt Engagement. Engagement bewegt die Gesellschaft. Sterben die Ideen, sterben auch die Vorbilder. Ohne Vorbilder verkümmert Vertrauen. Ohne Vertrauen vagabundiert Orientierungslosigkeit. Ohne Orientierung wuchert Passivität. Passivität lähmt die Gesellschaft.
Der Kampf der Ideen schärft Vorbilder. Je härter er ausgetragen wird, desto zahlreicher und klarer treten sie hervor. Wir leben in einer Spanne der Geschichte, in der die politischen Ideen, die Leidenschaften befeuert und Haltungen geprägt haben, abgetreten sind. Das 20. Jahrhundert hat erlebt, wie die großen Menschheitsideen von nationaler oder sozialer Befreiung, von gesellschaftlicher Emanzipation und ökonomischer Gerechtigkeit - zu Ideologien verzerrt - gescheitert sind, wenn nicht gar in Blut ersäuft wurden.
Was bleibt, ist Kapitalismus. Aber der ist keine Idee, sondern ein ökonomisches Ordnungssystem. Er gebiert keine Vorbilder, sondern Karrieremodelle. Er weckt kein Vertrauen, sondern Träume von Wohlstand oder Albträume von Verarmung. Nur die Bedrängung durch politisch konkurrierende Ideen hat aus Kapitalismus soziale Marktwirtschaft gemacht. Das historische Scheitern von Sozialismus und Kommunismus ruft nach neuer sozialer Marktwirtschaft, bei rasender Globalisierung. Die Antwort ist nicht gefunden.
Glaube und Religion bieten Zuflucht, Trost für viele. Aber nicht für alle. Nicht in der dogmatisch versteinerten Organisation der Kirchen. Und nicht mit verändernder Kraft, mit einer Vision der Befreiung, der sozialen Sinngebung im Hier und Jetzt. Tritt der Glaube mit dem Schwert des Herrschaftsanspruchs auf, pervertiert er zum Vernichtungskrieg der Kulturen eines Osama bin Laden. Der ist Vorbild für viele, aber ein schwarzes, schamhaft beschwiegenes - Antiheld unaufgeklärter, historisch gedemütigter islamischer Massen.
In unserer Welt der gestorbenen Ideale bleibt nur eines: persönliches Beispiel. Gelebte Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit. Das Charisma der Authentizität. Aber diese Generation ist historisch die erste, die keine lebenden Idole mehr hat. Johannes Paul II. war das letzte weltumspannende Vorbild, der größte Papst der Geschichte vermutlich. Selbst im Urteil von Atheisten. Die Pilgerfahrt von Millionen bei seinem Tod ist nicht mit der Bindungskraft kirchlicher Dogmen zu erklären - die werden selbst von Katholiken mit erdrückender Mehrheit verworfen. Sie war Huldigung für einen beispielhaft glaubwürdigen Mann. Mag sein, dass Nelson Mandela, Lech Walesa und Michail Gorbatschow noch als Vorbilder erkannt werden, doch die Aura der ersten beiden ist verblasst, der dritte wird selbst im eigenen Land nicht geschätzt. Der ukrainische Freiheitsheld Wiktor Juschtschenko weckt eher nostalgische Erinnerungen. An die Zeiten des Kampfs der Ideen, Ideologien und Systeme. John F. Kennedy, Willy Brandt, Che Guevara, Ho Chi Minh, Martin Luther King, Alexander Dubàek, Patrice Lumumba waren nur einige der vielen, die damals Leitbilder schufen. Charismatiker, denen Millionen folgten.
"In der kleinen deutschen Welt besetzen Trash-Figuren von der Müllhaftigkeit der Desirées, Kaders und Veronas die gesellschaftliche Bühne"
In der engen deutschen Welt ist das Heldensterben bis ins Kleinste zu beobachten. Dass Joschka Fischer so lange, so singulär die Rangliste der beliebtesten Politiker anführte, dass er nun umso rasanter abstürzte auf Rang vier - hinter den Polizeiminister Otto Schily -, ist nur mit Sehnsucht nach authentischen oder authentisch erinnerten Figuren und bitterer Enttäuschung über ein Trugbild zu erklären. Dass die ZDF-Serie "Kanzleramt" scheinbar rätselhaft unterging, ist in Wahrheit kein Rätsel: Idole, deren Wirken zu bewundern wäre, vermutet in solchem Amt niemand mehr. Und dass Angela Merkels Ansehen einfach nicht auf die Beine kommt, ist angesichts der Mutlosigkeit zu Profil und zählebiger Zweifel in den eigenen Reihen nur folgerichtig. Die Strauß-Dynastie hat sich gerade selbst final erledigt. Das Land hat keine politischen Idole mehr. Schon Helmut Schmidt hat sie mit dem Satz, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, historisch abgemeldet. Trash-Figuren von der Müllhaftigkeit der Desirées, Kaders und Veronas besetzen die gesellschaftliche Bühne. Künste und Intelligenz haben resigniert. Leitbilder? Nirgends.
Kann der deutsche Papst zum persönlichen Vorbild werden, dem großen Polen nachfolgen? Zweifel sind angebracht. Joseph Ratzinger hat nicht beispielgebend in die Welt gewirkt, politisch wie religiös, er war ein Mann des kirchlichen Machtapparats - zu scharf und zu brillant für Emotionen. Er spaltete mehr, als er versöhnte. Und: Er trägt die deutsche Geschichte auf den Schultern. Als Karol Wojtyla am Ende des Krieges einen in Auschwitz befreiten KZ-Hälftling auf dem Rücken durch Krakau trug, legte Joseph Ratzinger daheim in Bayern die Uniform des Luftwaffenhelfers ab. "Wir sind Papst", jubelte "Bild". Stimmt, aber wir haften auch mit - für ihn und seine Schwächen.