Ex-Gesundheitsministerin Schmidt "Das macht mich zornig"

Heute berät der Bundestag über die Gesundheitsreform. Doch was bedeutet die neue Kopfpauschale für die Bürger? Steigen oder sinken die Kosten für Medikamente? Ein Gespräch mit Ulla Schmidt, einst dienstälteste Gesundheitsministerin Europas.

Frau Schmidt, wir sind erstaunt. In ihrem Büro stehen noch Kisten und eingepackte Bilder aus dem Ministerium. Wir dachten immer, als einfache Abgeordnete hätten Sie ein bisschen mehr Zeit.
Schon. Aber ich bin auch viel unterwegs, in meinem Wahlkreis und an der Basis. Ich habe neue Aufgabenfelder, aber ich bin häufig noch im Feld der Gesundheitspolitik unterwegs. Es ist ja nicht so, als hätte mein Interesse an diesem Thema nachgelassen.

Sie haben immer vor der Kopfpauschale gewarnt, nun hat ihr Nachfolger Philipp Rösler (FDP) zumindest einen Einstieg in die Kopfpauschale durchgesetzt. Was kommt auf die Bürger zu?
Das ist, kurz gesagt, der massivste Angriff auf unser Solidarsystem, den es in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. Die Kosten für den Anstieg der Ausgaben im Gesundheitswesen müssen künftig allein die Versicherten tragen, und zwar über eine Kopfpauschale, die Gutverdiener entlastet und Normalverdiener belastet. Das macht mich zornig.

Aber die Kosten werden doch gar nicht so stark steigen. Die Regierung hat auch ein umfangreiches Sparpaket verabschiedet - allein bei Arzneien sollen zwei Milliarden jährlich eingespart werden.
In den nächsten drei Jahren werden das Preismoratorium und der festgelegte Herstellerrabatt die Kosten für Pharmazeutika etwas dämpfen. Langfristig jedoch wird das genaue Gegenteil eintreten. Denn die Möglichkeiten der Gesetzlichen Kassen, Rabatte auf Medikamente auszuhandeln, wurden gleichzeitig eingeschränkt.

Sie rechnen also damit, dass die Pharmakosten weiterhin steigen?
Ja.

Wie sehen Sie das neu definierte Verhältnis von Privaten und Gesetzlichen Krankenkassen - die Privaten können nun viel leichter gesetzlich Versicherte abwerben, weil sie recht unkompliziert wechseln können.
Die Privaten Krankenkassen zählen zu den Gewinnern der jetzigen Reform. Das ist auch kein Wunder. Immerhin hat der ehemalige Cheflobbyist der Privaten Krankenkassen, Christian Weber, nun die Federführung in der Grundsatzabteilung des Bundesgesundheitsministeriums. Und es ist doch auch alles gesagt, wenn man weiß, dass FDP-Mitglieder Sonderkonditionen bei der PKV haben.

Die Privaten sagen, solche Gruppenverträge mit Organisationen und Parteien seien nicht ungewöhnlich.
Moment: Mit der SPD existiert ein solcher Vertrag nicht. Und man sollte meinen, dass die FDP, spätestens als sie in der Regierungsverantwortung angekommen ist, solche Vergünstigungen von sich aus ablehnt. Hat sie aber offensichtlich nicht getan. Als ihr das im Bundestag zum Vorwurf gemacht wurde, hat sie das einfach unwidersprochen hingenommen.

So dramatisch, wie sie behaupten, kann die Gesundheitsreform auch nicht sein. Schließlich ist auch ein Sozialausgleich vorgesehen, der mit Steuermitteln bestritten wird. Ist da nicht auch viel Panikmache in der Debatte?
Sozialausgleich? Es wird immer davon geredet, dass zwei Prozent des Einkommens die Höchstbelastung seien. Erstens: Zwei Prozent sind schon viel. Wenn ich 2000 Euro Brutto verdiene, wird mir zugemutet, dass ich 40 Euro im Monat zusätzlich zahlen kann. Das ist viel Geld für Familien, die von diesem Verdienst leben müssen.

Und zweitens?
Ob ein Sozialausgleich gezahlt wird, hängt davon ab, wie hoch der durchschnittliche Zusatzbeitrag ausfällt. Die genaue Summe legt das Bundesministerium für Gesundheit fest. Das bedeutet: Muss der Familienvater, der 2000 Euro Brutto verdient 60 Euro Zusatzbeitrag bezahlen, weil seine Krankenkasse das so will, bekommt er gar nichts, wenn der vom Ministerium festgesetzte Durchschnittsbeitrag nur 35 Euro beträgt. Denn diese festgesetzten 35 Euro überschreiten ja nicht die Zwei-Prozent-Grenze.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Wie fühlt sich das an, solchen Regierungsvorhaben einfach zuschauen zu müssen?
Ich setze darauf, dass die Diskussion so breit geführt wird, dass das Gesetz in dieser Form nicht durchkommt. Und ich setze natürlich auf andere Mehrheiten nach der Bundestagswahl.

Sie sehen die SPD schon wieder in der Regierung?
Vor einem Jahr hätte uns niemand zugetraut, dass wir jetzt in einigen Umfragen schon wieder bei 30 Prozent sind. Die SPD ist noch nicht da, wo sie hin will, aber sie ist im Aufwind. Wir kommen wieder mit den Wählern, die sich von uns abgewendet hatten, stärker ins Gespräch, das Führungstrio hat sich bewährt.

Wer gehört denn zum Führungstrio?
Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Andrea Nahles natürlich.

Wir vermissen den Namen Peer Steinbrück.
Peer Steinbrück ist ein hoch anerkannter Politiker mit hohen Verdiensten für die Partei. Er ist nur nicht Teil des gewählten Trios.

Sie waren zehn Jahre Ministerin, ein unglaublich stressiger Job, wie haben Sie sich in ihr neues Leben als Abgeordnete eingefunden?
Naja, es ist schon anders. Als Ministerin ist der Terminkalender randvoll, jede Minute ist verplant, von früh bis spät. Am Anfang kam es mir richtig spät vor, wenn ich erst mal um 9 Uhr ins Büro kam. Inzwischen habe ich mich eingewöhnt und mir neue Aufgabenfelder in der Politik gesucht: Kunst, Kultur, Medien und natürlich die Aachener Region.

Dann könnten Sie ja auch die Kisten und Bilder auspacken.
Kommt schon noch.

Sie sind ein Workaholic, eine Politiksüchtige.
[Lacht] Machen Sie sich keine Sorgen. Ich arbeite gern. Und mir geht es gut.

Ulla Schmidt, 61

Uli Deck/DPA ... war, nach zehn Jahren im Amt, die dienstälteste Gesundheitsministerin Europas - der Sozialdemokratin ist nichts und niemand fremd, der im Gesundheitswesen mitmischt. Nach dem Ende der Großen Koalition 2009 übernahm Philipp Rösler, FDP, das Ressort. Schmidt ist weiterhin Bundestagsabgeordnete ihres Wahlkreises in Aachen. Die Katholikin ist geschieden, hat eine Tochter sowie eine Enkelin

Lutz Kinkel und Hans-Peter Schütz