Ein Wort ist verschollen. So plötzlich verschwunden, wie es aufgetaucht war. Die es hervorgezerrt und herumgestoßen hatten, unaufhörlich und besitzerstolz, ein paar bewegte Wochen lang, die kennen es nun nicht mehr. Schon die Erinnerung daran erscheint ihnen irgendwie peinlich. Fast schämen sie sich dafür. Für ihre Seligkeit. Für ihre Naivität.
Patriotismus. Ach Gott. Ach ja.
War da was? Doch, da war was. Da war ein Land, das sich erstaunt ganz neu kennen lernte. Das ganz spontan, ganz unorganisiert, ganz jugendbewegt und zukunftsfroh den deutschen Mehltau abschüttelte. Ein Volk, das seinen Eliten, den chronisch übel gelaunten Damen und Herren mit den notorisch hängenden Mundwinkeln, bewies, zu welchen Energien es fähig ist. Und ahnen ließ, was mit diesen Energien anzufangen wäre, wenn sie denn aus den Fußballstadien und von den Straßen abgeholt und für anderes - sagen wir: für die Erneuerung des Landes, oder noch naiver: fürs Gemeinwohl - nutzbar gemacht würden. Und wenn sich jene Eliten, die ihr eigenes Volk nicht wiedererkannten, davon anstecken, verändern, verpflichten ließen.
Nehmen wir beispielsweise die Abonnementpatrioten der deutschen Industrie, die den Taumel zum Zwecke der Umsatzförderung sponserten wie noch nie und den Patriotismus über ihre Zungen paradieren ließen, als wären sie die Offiziere des gemeinen Wohls. Was hätte es für Eindruck gemacht, wenn sie verkündet hätten, allen Jugendlichen werde ein Ausbildungsplatz garantiert. Dafür stehen wir ein, als Patrioten. Oder wenn sie eine große Initiative für Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer beschlossen hätten. Darum wollen wir uns kümmern, als Patrioten. Naiv. So läuft der Laden nicht. Das wissen wir doch. Oder? Die Herren der Industrie intrigierten lieber gegeneinander. Machtversessen, selbstvergessen. Die Politik, die soll es richten. Alles. Immer. Die Politik, die ist schuld. An allem.
Nehmen wir die Verbalpatrioten der Politik. Die spürten immerhin so etwas wie eine Verpflichtung - oder Verlockung -, sich von der Hochstimmung ihres Volkes anspornen zu lassen zu Außergewöhnlichem. Sie dachten darüber nach, was daraus zu machen wäre, doch der Gedanke verdorrte rasch. Denn das wäre doch zu riskant, sich selbst Maßstäbe zu setzen, Ziele zu benennen, an denen man künftig zu messen wäre.
Also verdrückte sich die Kanzlerin das wegweisende Interview über den Einbruch des Patriotismus in das Gehege ihres politischen Kleinmuts. Und zündete lieber ein Feuerwerk von Interviews über die angeblichen Erfolge bisheriger Politik.
Patriotismus? Das ist was für die da unten, für die mit den Fähnchen am Autofenster und den Farben im Gesicht. Patriotismus, das war mal. Eine Erinnerung. Bloß Fußball. Bloß Fanmeile. Gottlob, seufzen die da oben, ist der Klinsmann ja auch weg. Verschollen. Verschwunden wie das Wort, das nun niemand mehr in den Mund nehmen möchte. Eine Schattengestalt versiegelter Erinnerung. Ein paar Wochen lang war Klinsmann die Erlöserfigur, die die Sehnsüchte eines Volkes weckte. Wäre er geblieben, hätte er gestört. Nicht nur das deutsche Fußballkartell, sondern alle deutschen Kartelle. Weil er daran erinnert hätte, dass es auch anders geht. Sie hätten ihn klein machen müssen - und sie hätten es getan. Er wusste das. Deshalb ging er.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Patriotismus? Das ist was für die da unten, für die mit den Fähnchen am Autofenster. Gottlob, seufzen die da oben, ist der Klinsmann ja auch weg
Und das unerlöste Land bleibt unerlöst. Politisch gesehen ist es ein Land ohne Heilsversprechen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte. Als die Adenauer-Ära vorüber war, versprach eine Große Koalition Erneuerung. Danach Willy Brandt und das sozial-liberale Bündnis. Als das unter Helmut Schmidt erschöpft war, versprach Helmut Kohl die "geistig-moralische Wende". Als der das Land 16 Jahre lang ausgesessen hatte, weckte Rot-Grün Euphorie für die Überwindung des Reformstaus. Als Gerhard Schröder resignierte, standen Horst Köhler und Angela Merkel für einen radikalreformerischen Schub mit Schwarz-Gelb. Als das schief ging, mobilisierte das Notbündnis der Großen Koalition letzte Hoffnungen auf ein Wunder aus Einsicht in die Notwendigkeiten.
Das Wunder ist ausgeblieben. Die Union ist auf 31 Prozent Zustimmung abgestürzt, so tief wie nie zuvor und kaum noch unterscheidbar von den 29 Prozent der Sozialdemokraten. Nun gibt es kein politisches Farbenspiel mehr, das - wenigstens für einen relevanten Teil der Wähler - Zukunft verspricht und Energien freisetzt. Rot-Gelb, Schwarz-Gelb, Rot-Grün: wahlarithmetisch schier unerreichbar. Oder verbraucht. Jamaika, das Vier-Parteien-Rätsel aus CDU, CSU, FDP und Grünen, könnte nicht mehr sein als ein Experiment. Ein Sudoku der Politik. Euphorische Erwartungen vermag es nicht zu mobilisieren. Andere Länder kennen solche Verhältnisse schon lange. Wir müssen damit erst mal klarkommen.