Es gibt nichts Richtiges im Falschen, lautet eine gängige Weisheit intellektueller Verkleidungskünstler. Soll heißen: Wenn etwas verwerflich ist, dann ganz und gar, mit Stumpf und Stiel - selbst aus der feinsten Wurzel vermag nichts Positives zu wuchern. Aber auch dieser Spruch, der sich so verblüffend richtig anhört, dass damit gerne renommiert wird, ist falsch. Die Kompliziertheit des Lebens widerlegt ihn unermüdlich. Wie dieser Tage modellhaft der sozialdemokratische Machtkampf um die Reformpläne des Kanzlers.
Denn der Widerstand der Parteilinken gegen die um Jahre verspäteten, zaudernden, noch immer nicht in einen großen architektonischen Entwurf eingebetteten Umbauarbeiten an den Sozialsystemen ist in der Sache völlig verkehrt; sie zu stoppen, gar weiter - wie die Rebellen - vom "Ausbau des Sozialstaates" zu träumen, heißt nichts anderes als eben jenen taumelnden, unfinanzierbaren Musterstaat in den vollständigen Ruin zu treiben (und die eigene Regierung gleich mit). Die Ziele des Mäuseaufstands im Brotkasten des Kanzlers sind also in jeder Hinsicht falsch.
Das Ergebnis der Deformation einer Partei
Der Aufstand selbst aber keineswegs; er ist überfällig, folgerichtig und gerechtfertigt. Denn er ist das Ergebnis einer Deformation der Partei, die deren Existenz bedroht. Der Sozialdemokratie mit ihrer 140-jährigen Sozialgeschichte abzuverlangen, dass sie historisch einschneidenden Veränderungen der von ihr selbst geprägten Systeme von Arbeitsmarkt, Gesundheit und Rente von der Zuschauerbank aus schweigend und gehorsam applaudiert, dies übersteigt das Maß des Zumutbaren. So aber macht Gerhard Schröder seit Jahren Politik: Die Denkarbeit wurde undurchschaubar zähen Konsensrunden, später politikfernen Kommissionen überantwortet.
Ehedem war das ein Privileg der Partei - mit gutem Grund, auch wenn die Diskussions- und Entscheidungsprozesse dort vordergründig schwieriger erschienen. Demokratie wächst von unten nach oben - oder sie verdorrt und provoziert Revolten der Ausgesperrten. Die Parteien sind dabei unverzichtbar - wegen der Kreativität, der Lebenserfahrung und der Verankerung ihrer Mitglieder im Volk.
Wer seine Partei nicht mitnimmt, wird irgendwann von hinten gepackt
Die in der Mediengesellschaft gewucherte Praxis vorgeblich schnellen und modernen Regierens aber ist das glatte Gegenteil: Beschlüsse werden irgendwo oben gefasst und nirgendwo unten mehr vermittelt. Das Hartz-Konzept segnete die SPD auf einer in ihrer Satzung gar nicht vorgesehenen Parteikonferenz ab - und das nicht mal durch Abstimmung, sondern durch Applaus. Seine "Agenda 2010" brütete Gerhard Schröder mit wenigen Beratern hinter verschlossenen Türen aus; die SPD-Fraktion bejubelte ihre eigene Entmündigung am 14. März nach der Regierungserklärung mit einer Standing Ovation.

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Bruch mit dem Bismarckschen Sozialmodell
Nun stellt die Rürup-Kommission die Politik bei der Reform des Gesundheitswesens vor eine Alternative, die Partei-Veteranen nur mit Mühe verstehen, einfache Menschen aber gar nicht. Das "Kopfprämiensystem", ein vollständiger Bruch mit dem Bismarckschen Sozialmodell, und die "Erwerbstätigenversicherung" hat ihnen niemand erklärt. Es gibt nicht einmal Anstalten dazu. Das SPD-Präsidium ist längst kein Forum kritischer Diskussion mehr; abnicken und abwettern wird von den Funktionären erwartet. Und unten geben die Genossen Fersengeld. In der Dreieinhalb-Millionen-Metropole Berlin hat die SPD noch ganze 19100 Mitglieder. Warum auch soll ein junger Mensch in die Partei eintreten, wenn er keine Chance hat, den Kurs mitzubestimmen.
Was wäre der richtige Weg gewesen? Schon vor vier oder fünf Jahren hätte die Partei eine mit ihren besten Wirtschafts- und Sozialpolitikern besetzte Kommission installieren müssen. Auftrag: Konzepte zur Sanierung von Arbeitsmarkt, Rente, Gesundheit und Pflege. Ziel: Senkung der Beiträge, Belebung der Wirtschaft, fairer Ausgleich zwischen Jung und Alt. Zwei Jahre später wäre auf einem Parteitag über die Ideen abgestimmt worden; die Unterlegenen hätten sich dem Votum gefügt. Es hätte sich offenbart, ob überhaupt und wie weit im Detail die SPD reformfähig ist.
Das Versäumnis ist nicht wettzumachen, auch wenn viel daraus zu lernen wäre. Wer seine Partei nicht mitnimmt, braucht sich nicht zu wundern, wenn sie ihn irgendwann einholt und von hinten packt. Der Leichnam zuckt - doch so rasch röten sich die Wangen der Sozialdemokratie nicht wieder. Der Parteitag im Juni wird kein Kongress der Verständigung, sondern der Unterwerfung.