Zwischenruf Volk in Reserve

Die Deutschen sind klug - klüger, als die Politik glaubt. Mit Manövern wie dem Jobgipfel ist ihr Vertrauen nicht zu gewinnen. Aus stern Nr. 12/2005

Die Deutschen wählen an der Kasse, nicht an der Urne. Jedenfalls zu 100 Prozent - und nicht nur zu 53, wie im Schnitt der 14 Wahlen des vergangenen Jahres (im Irak haben trotz Lebensgefahr 59 Prozent gewählt). Deshalb sagen die Umsätze des Handels, die Verkäufe der Autoindustrie, das Wachstum der Wirtschaft mehr aus über die Psychologie des Volkes als die mitunter krassen Minderheiten, die sich bei Wahlen zu den Volksparteien bekennen. Bei der Europawahl im vergangenen Juni gaben nur 19 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme der Union, neun (!) Prozent der SPD. Statt 44,5 beziehungsweise 21,5 Prozent, wie es das amtliche Ergebnis auswies - auf Basis jener 43 Prozent, die teilnahmen. Gemessen an allen Wahlberechtigten erreichen CDU und CSU auch aktuell nur 31 (statt 44), die Sozialdemokraten 22 (an Stelle von 31) Prozent. Denn fast ein Drittel des Volkes ist in Enthaltung geflüchtet. An der Kasse aber wählt dieses Drittel mit. Krampft die Hand um die Börse, zahlt mit kleiner Münze, dreht das Wirtschaftswachstum wieder gen null - und wartet auf bessere Zeiten. Irgendwann wird irgendwer vielleicht dafür sorgen. Heute jedenfalls nicht. Und auch nicht die, die behaupten, sie arbeiteten längst an jener besseren Zeit. Drei Viertel der Deutschen sind überzeugt, dass sich das ökonomische Elend fortsetzt oder sogar noch verschlimmert. Und drei Viertel glauben von vornherein nicht daran, dass der Jobgipfel beim Kanzler Jobs bringt.

Wie könnte er also? Wenn jeder Kompromiss zu klein ist, um die Angst zu vertreiben? Und ein Wunder zu groß, um in dieser Parteienformation realistisch zu sein? Mag am Ende des raffinierten Geschiebes herauskommen, was will: Es ist nicht genug. Also trudelt die depressive Nation weiter ziel- und planlos vor sich hin - weil das Verhalten der Akteure dem eigenen Pessimismus ständig neue Nahrung gibt. Eine Spirale des Misstrauens, weder durch parteitaktischen Zauber noch durch patriotische Appelle zu durchbrechen. Ist das Land dabei, sich selbst unaufhaltsam abwärts zu ziehen? Verliert es gar den Verstand?

Die Deutschen sind ein kluges Volk. Vergessen wir den unvermeidlichen Bodensatz an Verwirrten und Verlorenen - Menschen, die an ihrem Leben oder der Gesellschaft verzweifelt sind -, so verhält es sich in seiner übergroßen Mehrheit höchst rational und verantwortungsvoll. Demokratisch verlässlich wie ökonomisch vernünftig. Auch Wahlenthaltung ist in diesen Zeiten kein Ausdruck unpolitischer Haltung. Im Gegenteil: Sie ist der mildeste und demokratisch reifste Ausdruck, Protest zu artikulieren. Warum etwa sollten die Menschen bei besagter Europawahl in Scharen wählen gehen, wo sie doch wussten, dass das Parlament, um das es ging, erst noch ein vollwertiges werden muss? Grob geschätzt sind sieben Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos, seit mehr als einem Jahr setzen nur noch zwölf Prozent der Wähler ungebrochenes Vertrauen in die Parteien - und dennoch können Rechts- wie Linksextremisten daraus nicht nennenswert Kapital schlagen (der NPD-Erfolg in Sachsen hat spezielle regionale Ursachen).

"Seit der amtlich zugelogenen Preistreiberei bei der Einführung des Euro trauen die Menschen niemandem mehr"

Wenn nicht in analytischer Schärfe, so doch in verblüffender Instinktsicherheit erkennen die Wähler, wann und wo etwas nicht stimmt an Programmatik und Auftritt der Parteien. Der Konkurs der Regierung Kohl 1998, der Wankelmut der Union beim Irak-Konflikt 2002, der ökonomische Offenbarungseid der Regierung Schröder 2003, die Kabalen der Union 2004, die Job-Katastrophe 2005 - all das fand und findet seinen klar nachvollziehbaren Ausdruck in teils erdrutschartigen Stimmungswechseln bei Wahlen und Umfragen.

Das aufmerksam beobachtende Volk hat sich zu einem beträchtlichen Teil in Reserve zurückgezogen und wägt im letzten Moment, ob und für wen es zur Urne geht. Das war jüngst in Schleswig-Holstein so, und das könnte sich in Nordrhein-Westfalen wiederholen. Erst in den letzten 14 Tagen vor dem 22. Mai werde die Wahl dort entschieden, meint SPD-Regent Peer Steinbrück. Ökonomisch verhält es sich nicht anders: Warum sollten die Menschen weiteren zögernden Reformschritten, einer nochmaligen Senkung der Unternehmenssteuern trauen, wo doch alle bisherigen keine Jobs geschaffen haben? Warum sollten sie Geld riskieren, da doch völlig unüberschaubar ist, welche Opfer ihnen noch bevorstehen?

Der Kern der deutschen Krise ist eine Vertrauenskrise. Eine, wie es sie noch nie gegeben hat: in Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Die amtlich zugelogene Preistreiberei bei der Euro-Einführung war das psychologische Fanal. Seither trauen die Menschen niemandem und nichts mehr. Der Einmaligkeit dieser Krise muss die Einmaligkeit ihres Lösungsversuchs entsprechen: ein Urknall der Erneuerung, der alles in einem Moment wagt - und alle gesellschaftlichen Akteure mitreißt. Erst dann gibt es auch ein Vertrauensvotum an der Kasse.

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Hans-Ulrich Jörges