Deutsche Debattenkultur Von Atomausstieg bis Nahost-Konflikt: Wir müssen moralisch abrüsten

Ein Gastbeitrag von Michael Bröning
Demonstranten der Gruppe "Letzte Generation" blockieren eine Straße, vor ihnen steht ein schwarzer Mercedes
Moralisch aufgerüstet: Demonstranten der Gruppe "Letzte Generation" blockieren in Hannover eine Straße
© Julian Stratenschulte/dpa
Die deutsche Klimalobby wähnt sich als Vorreiter einer globalen Bewegung, dabei steht sie in Wahrheit ziemlich alleine da. Warum? Weil in der Politik nicht die nüchterne Abwägung zählt sondern der moralische Imperativ. Es ist an der Zeit, das zu ändern.

"In Deutschland ist die Ökonomie ein Zweig der Moralphilosophie", lästerte der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Monti während der Eurokrise. Gegenstand der Kritik war das unbeirrte Berliner Festhalten an der Austeritätspolitik. Sicher: Die Schuldenbremse sorgt auch weiterhin für hitzige Grundsatz-Diskussionen – zurecht. Doch heute ist es nicht mehr nur der Wirtschaftskurs, der vornehmlich unter Gesichtspunkten der Moral debattiert wird – es ist die Politik insgesamt. 

In einer politischen Schlüsselfrage nach der anderen aber führt diese moralisch verengte Perspektive der Debatte zum Ausblenden unbequemer Wahrheiten, zum Beharren auf überkommenen Positionen und zum Aufschieben dringender Kurswechsel.

Politikwissenschaftler Michael Bröning
Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien von ihm „Vom Ende der Freiheit: Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“. Dietz, 2021.
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Aktuellstes Beispiel: Kernkraft. Mehr als 20 Länder aus vier Kontinenten haben auf dem derzeit laufenden COP28 Gipfel in Dubai eine Allianz für die Kernenergie ins Leben gerufen. In einer gemeinsamen Erklärung erkennen die Staaten eine "Schlüsselrolle" dieser Energie in der Reduzierung von Treibhausgasen. Ziel ist eine weltweite Verdreifachung der Kernenergie – unter anderem durch Berücksichtigung bei der Kreditvergabe internationaler Finanzinstitutionen. 

Das Beharren auf dem Atomausstieg ist reaktionär

Eine zynische Attacke reaktionärer Klima-Leugner? Nein. Zu den Unterzeichnern gehört die Biden-Administration, Kanada, Finnland, Frankreich, Südkorea, Schweden, die Ukraine und das Vereinigte Königreich. Reaktionär erscheint im internationalen Vergleich mittlerweile eher das Beharren auf einem Atomausstieg in Deutschland. 

Durch das rigide Festhalten am Ausstieg hat sich Deutschland auf einen Weg begeben, auf den ihm niemand folgt. Selbst Japan verkündete kürzlich den Ausstieg aus dem Ausstieg. Immer deutlicher wird: Der als moralischen Sieg über den "Atom-Staat" gefeierte Kurs Deutschlands ist letztlich eine fundamentale Entkopplung von einem globalen Trend. 

Denn die Berliner Klimalobby sieht sich zwar gerne als Vorreiter der weltweiten Bewegung. Doch in Wirklichkeit steht sie mit ihrer starren Ablehnung der Kernkraft international ziemlich alleine dar. Selbst Greta Thunberg bekannte sich unlängst zur Kernenergie als geringerem Übel.

Natürlich gibt es legitime Gründe für Atoms-Skepsis. Doch bezeichnend für die Isolation Berlins ist die Abwesenheit auch nur einer offenen Diskussion und das Ersetzen einer nüchternen Abwägung durch moralische Imperative.

Stromerzeugung als ökumenische Moraltheologie

Schon das Atom-Aus in Folge Fukushimas wurde ja nicht zufällig durch eine "Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung" vorbereitet. Diese kam – unter Einbeziehung eines Landesbischofs, eines Erzbischofs und des Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken – zu einem klaren Ergebnis: Der "schnellstmögliche Ausstieg" sei "ethisch gut begründet". Stromerzeugung als ökumenische Moraltheologie: Auch das findet sich weltweit nicht überall.

Grünen-Chefin Ricarda Lang feierte das Stilllegen der letzten Kraftwerke als "endgültigen Einstieg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien". Schön wäre es. Doch stattdessen hat sich der Ausstieg als Einstieg in heikle Abkommen mit arabischen Potentaten und in Atomstrom-Importe aus Frankreich erwiesen.

Selektives Entsetzen und mantrahafte Beschwörungen

In der Geopolitik sieht es kaum besser aus. Beispiel Naher Osten. Sicher: Die Reaktion auf den schrecklichen Angriff aus Gaza war in Deutschland zunächst so wie in anderen westlichen Staaten auch. Solidarität mit den Opfern war das Gebot der Stunde. Jedoch: Während sich politische Positionen seit der Attacke und der israelischen Vergeltung weltweit ausdifferenziert haben, bleibt es in der Berliner politischen Diskussion bei einem reichlich selektiven Entsetzen und mantrahaften Beschwörungen der Solidarität mit Israel.

"Holocaust", "deutsche Staatsräson", "jüdisches Leben an sich": Das waren die Begriffe einer Debatte, die binnen kurzem nur noch wenig mit der Lage vor Ort zu tun haben schien, dafür umso mehr mit spezifisch deutschen Befindlichkeiten. Sicher: Per se ist daran nichts verwerflich. Die deutsche Position zu Israel kann nicht beliebig sein. Doch die realpolitischen Folgen haben es in sich. 

Beim EU-Gipfel in Brüssel wurden Rufe nach einer Waffenruhe in Gaza ausgerechnet aus Berlin geblockt. Und angesichts dortiger Kritik an Israel sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck sogar eine Reise nach Portugal kurzentschlossen ab

Während in Deutschland offizielle Verlautbarungen der Solidarität mit Israel die öffentlichen Äußerungen dominierten – und auf der Straße pro-Palästinensische Demonstranten ein radikales Gegenprogramm abspulten – warben Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und selbst Russland und China im UN-Sicherheitsrat längst für eine Feuerpause und fanden zu einer differenzierteren Position. 

Die vermeintlich alternativlose moralische klare Kante Berlins aber führte zu der paradoxen Situation, dass die Kampfhandlungen in der vergangenen Woche letztlich gegen den ausdrücklichen Ratschlag einer Bundesaußenministerin gestoppt wurden, die sich insbesondere einer "feministischen" Außenpolitik verschrieben hat.

Im Konfliktfall: Scheuklappen auf

Die Folgen sind global beobachtbar. Denn es bleibt nicht unbemerkt, wenn eine Regierung jahrelang für Fairness im Umgang mit dem globalen Süden wirbt und dann im Konfliktfall die Scheuklappen aufsetzt.

Zumal sich eine parallele Entkoppelung auch bezogen auf die militärische Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Angriff abzeichnet – auch wenn dies in der deutschen Debatte geflissentlich ausgeblendet wird. 

In den Vereinigten Staaten, in Teilen Osteuropas und sogar in der Ukraine selbst mehren sich längst die Stimmen, die eine Verhandlungslösung angesichts des militärischen Patts für alternativlos halten. In Reinform findet sich ein Festhalten an den Maximalzielen der vollständigen Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität aktuell nur noch in den engsten Zirkeln um den ukrainischen Präsidenten Selenskyj – und in vornehmlich moralisch argumentierenden Haltungsanalysen der Berliner Twitterati. 

Füße unterm Schreibtisch, Kopf in höchsten Sphären der Moral

Dort wird die Lage – mit den Füßen unterm Schreibtisch und dem Kopf in den höchsten Sphären der Moral – immer noch ein Stück weit kategorischer beurteilt als andernorts. "Vom Ende der Welt, wie wir sie kennen" liest man hier ganz ernsthaft für den Fall des Ausbleibens eines ukrainischen Sieges. Grundsätzlicher geht es kaum. 

Und natürlich Migration: Seit 2015 besteht Deutschland in Einwanderungsfragen auf einem Sonderweg, der europaweit nicht nur Kopfschütteln, sondern mittelbar auch eine Welle rechtspopulistischer Erfolge an der Wahlurneausgelöst hat. Ansätze, wie die der dänischen Sozialdemokratie – immerhin Regierungspartei in einem der liberalsten Länder der Welt – wurden verteufelt. Statt auf Sorgen zu reagieren, wurde die Alternativlosigkeit faktisch offener Grenzen gepredigt – und zwar mit Vorliebe im moralgeschwängerten Ton eines evangelischen Kirchentags.  

Dabei blieb stets unklar, weshalb die Bevölkerung eine Politik der moralisch begründeten Handlungsunfähigkeit auf Dauer akzeptieren sollte. Aktuell bleibt abzuwarten, wie der überfällige Kurswechsel des Bundeskanzlers in Sachen Migration goutiert wird. Dabei ist ganz unabhängig vom Ausgang dieser Debatte aber auch hier bezeichnend, wie sehr die Diskussion moralisch geführt wird. 

Das zum Höhepunkt der Willkommenskultur eingeführte Schwarz-Weiß-Bild von hellem vs. dunklem Deutschland wirkt nach. Bis heute sind Positionsänderung in der Migrationspolitik trotz klarem Wunsch der Bevölkerung nur im Gewande der Moral möglich. Interessen? Fehlanzeige. Das Gebot der grenzenlosen Fernstenliebe konnte in der aktuellen Debatte faktisch nur durch das moralisch augenscheinlich noch schwerwiegendere Gebot der deutschen Verantwortung für jüdisches Leben ausgehebelt werden. Erst vor dem Hintergrund antisemitischer Ausschreitungen aus migrantischen Milieus wurden Forderungen nach Migrationsbegrenzung – moralisch – sagbar.

Gut möglich, dass sich dieses Muster bezogen auf Frauenrechte nun auch in einem der heißesten Themen der aktuellen Kulturkämpfe wiederholt: Der geschlechtlichen Selbstbestimmung. Längst werden in westlichen Demokratien Wahlen über die Frage entschieden, inwiefern geschlechtliche Identität durch einen Sprachakt definiert werden kann.

Bei allem Eintreten gegen Diskriminierung zeichnet sich in den skandinavischen Ländern, in Großbritannien aber auch in den Vereinigten Staaten längst eine vorsichtige Abkehr von der unkritischen Identitätsbestätigung insbesondere junger Menschen ab. Und: Nicht zuletzt erläutern dort feministische Gruppen beharrlich, dass traditionelle Anliegen der Frauenförderung durchaus konterkariert werden, wenn beliebig wird, wer (oder was) eine Frau ist. 

Dessen ungeachtet aber wird das Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland weiter vorangetrieben. Zweifel und kritische Stimmen werden nicht aufgenommen, sondern als "moralische Panik" abgetan. Es ist diese Absolutheit der deutschen Debatte, die die aktuellen Entwicklungen jenseits der Bundesgrenzen außer Acht lässt. Gibt es eigentlich eine Bezeichnung für das Einschlagen eines Irrwegs, den andere längst wieder verlassen haben?

Schon im Oktober 2022 warnte der französische Präsident Emanuel Macron vor der "Isolation" Deutschlands. Der Aufschrei damals war groß. Doch von wirklicher Selbstkritik ist der deutsche öffentliche Diskurs nach wie vor weit entfernt. Hier ähnelt der Debattenmoralismus vielmehr dem Autofahrer, der auf die Radiowarnung vor einem Geisterfahrer mit dem Ausruf reagiert: "Einer? Hunderte!"

Bevor es zu einem Frontalaufprall kommt, ist es deshalb höchste Zeit, den moralischen Absolutismus der Diskussion zurechtzustutzen. Das Ringen um wertegeleitete Politik ist nicht nur legitim, sondern auch sinnvoll. Doch rigider Moralismus der Debatte führt zu Starrheit und zu politischer Isolation. Schließlich ist es keine moralische Führung, wenn niemand folgt und es ist kein Universalismus, wenn sich moralische Positionen als reichlich partikulare Angelegenheiten entpuppen. 

Moralische Abrüstung aber ist besonders dringend, weil der allgegenwärtige Stil der ethischen Alternativlosigkeit mittlerweile den einzigen Sonderweg an sein Ende gebracht hat, der Deutschland über Jahre wirklich positiv auszeichnete: Die im internationalen Vergleich erstaunliche Schwäche des deutschen Rechtspopulismus. 

Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien von ihm „Vom Ende der Freiheit: Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“, Dietz, 2021.