Der Mann sieht aus wie aus Grimms Märchen. Steht in Wams, Pluderhemd und Schaftstiefeln in der Erfurter Innenstadt und bietet seine Ware feil. "Christliche zu verkaufen! Edle Maid, erfreut euch an einer Christlichen", preist Rüdiger Koszyk seine Kräuterbrezeln mit dem frommen Namen an. "Einstmals, zur Fastenzeit, waren sie Speise derer, die keinen Taler für Fisch hatten", psalmodiert er und stampft sich die Füße warm, dass seine Stiefelglöckchen klingen. Erst als ihn das Bimmeln der vorbeifahrenden Tram übertönt, schaltet er um auf Normalsprache. "Ich bin eine Art mittelalterliche Ich-AG", erzählt der gebürtige Nürnberger, der seit 1992 in der thüringischen Landeshauptstadt lebt. Dass er als Brezelhöker so guten Erfolg hat, schreibt er seinem Mittelalter-Outfit zu. "Das war Erfurts große Zeit und ist mein Kapital für die Zukunft."
Schänken, die seit Jahrhunderten
thüringische Gerichte servieren. Kneipen, die immer noch durch ein Bündel Stroh anzeigen, dass ein Fass Bier frisch angestochen wurde. Unzählige Fachwerkhäuser, Dutzende Kirchen, krumme Gässchen, durch die kein Auto passt. In der Erfurter Altstadt ist das Mittelalter allgegenwärtig, nur wenige Orte in Deutschland bieten so viel lebendige Vergangenheit. Der Grund: Erfurt wurde im Krieg weitgehend von Bombentreffern verschont, in der DDR-Zeit wurde kaum etwas abgerissen. Gefahr drohte erst, als nach der Wende das Geld für die Sanierung des unter Flächendenkmalschutz stehenden Ensembles floss. Nur allzu leicht hätte eine totsanierte Idylle entstehen können.
Erfurt ist eine äußerst vitale Stadt geblieben. Das verdankt sie den "Puffbohnen". Die Einheimischen, nach ihrer liebsten Hülsenfrucht so genannt, haben erfrischend wenig Ehrfurcht vor ihren Kulturdenkmälern. Was funktioniert, soll auch benutzt werden, so die Erfurter Überzeugung: Im klassizistischen Kaisersaal, wo einst Napoleon Hof hielt, tagt der örtliche Karnevalsverein. Im Augustinerkloster, in dem Martin Luther zum Priester geweiht wurde, darf man übernachten. Das "Haus zum breiten Herd" mit seiner prächtigen Renaissance-Fassade beherbergt eine Pizzeria. Auf der 680 Jahre alten Krämerbrücke, mit 32 Häusern die längste bebaute Brücke nördlich der Alpen, haben sich Künstler eingenistet.
Trotz allen Glanzes - Erfurt im Mittelalter war wohl kein reiner Genuss. Es stank bestialisch, als die Siedlung an der Gera-Furt zu einer bedeutenden Stadt im Reich heranwuchs. Das "Er-" im Namen stammt vom altdeutschen Wort "Erphe", was so etwas wie dreckiges Wasser bedeutet. Zur Verfärbung trug die Waidpflanze bei, die im milden Thüringer Klima gut gedieh. Aus ihren Blättern gewann man durch ausgiebiges Bearbeiten im fließenden Gewässer einen blauen Farbstoff, der mit Gold aufgewogen wurde. Um das färbende Pulver herzustellen, musste die Pflanzenmasse allerdings ein halbes Jahr lang gären - in Männerurin. Für den richtigen Feuchtigkeitsgrad des Blätterbreis, der in Fässern auf den Dachböden der Wohnhäuser lagerte, waren eigens eingestellte Waidknechte zuständig.
In einer der damals fast 600 Hausbrauereien tranken die erst ihr Bier und erhöhten kurze Zeit später den Pegel im Fass. In Erfurt kreuzten sich die Handelswege Kiew-Paris und Oslo-Verona, das brachte zusätzlichen Reichtum. Denn ob Schmuck, Gewürze oder Seide: Jeder durchreisende Händler musste seine Waren zwei Tage lang zum Verkauf anbieten, der Markt lockte Kunden aus der ganzen Region an. Wer Glück hatte, erlebte dabei das Geläut der Gloriosa, der größten frei schwingenden mittelalterlichen Glocke der Welt, die 1497 in den Turm des Erfurter Doms gehängt wurde und auch heute noch zu hohen Feiertagen schlägt. Wer sich ausmalen will, wie betriebsam es vor vielen hundert Jahren innerhalb der später geschleiften Stadtmauern zuging, sollte den Erfurter Weihnachtsmarkt besuchen. Der ist jeden Tag in der Adventszeit so voll, dass einem auch bei Frost nicht kalt wird. Liebesäpfel, Zuckerwatte und gebrannte Mandeln duften, über Weihnachtslieder vom Band schallt das Gelächter der Glühweinseligen. Im Märchenwald machen Kinder Kulleraugen, Kunsthandwerker an ihren Ständen Umsatz. Jahr für Jahr schieben sich in der Vorweihnachtszeit zwei Millionen Besucher zwischen Buden, Karussells und Tannen hindurch. Sie kommen vor allem wegen der einmaligen Kulisse. Auf dem Hügel überm Domplatz prangen gleich zwei mächtige Kirchen. Die angestrahlte Freitreppe, die in 70 Stufen zu den Gotteshäusern emporführt, leuchtet wie der Weg ins Paradies. Wenn es dann noch schneit, ist der Winterzauber perfekt.
Die Erfurter wissen,
dass sie es mit ihrer Heimatstadt gut getroffen haben. Sie sind stolz auf den Thüringer Wald und die Weimarer Klassik, auf ihre Klöße lassen sie nichts kommen. So richtig in Fahrt geraten sie aber erst, wenn es um die Wurst geht. Man kann es nicht anders sagen: Die Thüringer lieben ihre Bratwurst. Stehen bei nasskaltem Wetter schon morgens vor dem angeblich besten Bratwurststand der Stadt an der Schlösserbrücke Schlange, nehmen erst das aufgeschnittene Brötchen in Empfang und halten es dann dem Bratmeister mit einer Geste entgegen, die jener der Gläubigen beim Empfang der Hostie ähnelt. Brutzelheiße Wurst rein, ordentlich Senf drauf, fertig ist das Thüringer Glaubensbekenntnis.
Dass das Selbstbewusstsein der Erfurter kerngesund ist, liegt nach Ansicht von Stefan Kühn an der Wiedervereinigung - obwohl die Arbeitslosenquote sich seit 1990 bei 18 Prozent eingependelt hat. "Seit die Erfurter ausgiebig im Westen waren und festgestellt haben, dass es dort wenige so schöne Städte gibt, lieben sie ihre Heimat noch mehr", mutmaßt der 27-Jährige. Er betreibt auf der Krämerbrücke ein winziges italienisches Café mit Delikatessenverkauf. Die Espressomaschine faucht, es duftet nach getoasteten Panini, unterm Fenster gurgelt die Gera. Wie er für sein Geschäft auf den Namen "Mundlandung" kam, kann Kühn heute nicht mehr sagen. "Punktlandung wäre treffender." Punktlandung deshalb, weil auch er nach Wanderjahren in Australien, Italien und Berlin wieder dort angelangt ist, wo es am schönsten ist. Zu Hause, in Erfurt. Statt Weltenbummeln Cappuccino kochen auf der Krämerbrücke. Nach langer Blütezeit kam der Niedergang Erfurts, nachdem Ende des 15. Jahrhunderts der Seeweg nach Indien entdeckt worden war. Billigeres Indigo ersetzte nach und nach das teure Waidpulver. Zeitgleich sorgte ausgerechnet Martin Luther dafür, dass seine Studienstadt für Jahrhunderte auf die hinteren Ränge der Geschichte verbannt wurde. Der Ratsherrensohn immatrikulierte sich 1501 an der Erfurter Universität, begann das Studium der freien Künste. 1507 geriet er in ein Gewitter, das den Lauf der Geschichte ändern sollte. Angesichts der Naturgewalt packte den Magister die Angst. Er schwor, Mönch zu werden, sollte er das Unwetter überleben.
Zwar sind die Erfurter heute stolz
, dass Luther hier bereits predigte, bevor er nach Wittenberg ging, um dort an den Grundfesten der Kirche zu rütteln. Zu Zeiten der Reformation musste die Stadt für ihren streitlustigen Studenten aber teuer zahlen. Erfurt war Mainzer Besitz, ergo streng katholisch. Der neue Glauben, dem sich zwei Drittel der Bevölkerung anschlossen, kostete die Stadt viele Privilegien. Weimar und Jena liefen ihr als Universitätsstädte und geistige Zentren den Rang ab.
Die Erfurter reagierten, wie es ihre Art ist. Zuckten mit den Achseln und wandten sich den schönen Dingen des Lebens zu. Die Stadt wurde zum Zentrum der Blumenzucht, das rege Treiben der besseren Gesellschaft zog Deutschlands Großdichter Goethe und Schiller immer wieder hierher. Im Haus Dacheröden, das heute an der Haupteinkaufsmeile Anger zwischen Schuhgeschäften und Jeansläden versteckt ist, hielt damals der Mainzer Statthalter Dalberg Hof. Die Soireen des Aufklärers und Schöngeistes waren berühmt. Sowohl für die anregenden Gespräche als auch die anwesenden Damen. Hier lernte Schiller seine künftige Frau kennen.
Ein Abendspaziergang durch Erfurts Altstadt
ist ein Bummel über Wasser. Immer wieder überquert man einen der vielen Nebenzweige der Gera. Viele Bewohner von Wassergrundstücken - insgesamt 30.000 der rund 200.000 Erfurter leben in der Innenstadt - haben ihre Wohnfläche durch Pontons vergrößert. Im Sommer dienen sie als Balkon, im Winter als Stellfläche für Weihnachtsbäume, deren Lichter sich im Wasser spiegeln. Einige Häuser weiter gibt es in der Schlösserstraße Prosecco. Die Gäste stehen trotz Kälte bis auf die Straße. Ein Geschäft feiert Einjähriges. Aus einem Eingang wehen Tangoklänge, hinter beschlagenen Fenstern drehen sich Paare auf einer Tanzfläche. Dass es in Erfurt überdurchschnittlich viele hübsch dekorierte Bars und Cafés gibt, ist der Jugend zu verdanken. Dass es so viele Teenager gibt, ist ein Erbe der DDR. Die letzten geburtenstarken Jahrgänge vor der Wende machen gerade Abitur.
Der neueste In-Laden ist das Abacco. In dem Fachwerkhaus direkt am Wasser verbreiten weiße Ledersessel und ein riesiges Schwarzweißfoto an der Wand Großstadtatmosphäre. Am Tresen steht Andreas Götz, Elektrotechniker und Erfurter aus Überzeugung. "Zu Hause in Aachen ist es auch schön, aber so viel Charme hat die Stadt nicht", sagt er, der vor zwei Jahren seiner Freundin in ihre Heimatstadt folgte. Felix, der hinter dem Tresen die Cocktails schüttelt, kann sich ein Grinsen nicht verkneifen: "Die Wessis wollen nicht mehr weg. Na, dann haben wir den Aufschwung Ost ja wohl doch ganz gut hinbekommen."