Ganz Deutschland kennt ihn: den Hamburger Kiez auf St. Pauli. Die Clubs, Bars und Restaurants auf der Reeperbahn und in den Nebenstraßen werden täglich von mehreren tausend Menschen durchstreift. Doch was, wenn Corona dem gewöhnlichen Treiben in Herbertstraße und Silbersackstraße einen Strich durch die Rechnung macht? Wer füllt abseits der Partytouristen und Partytouristinnen die Straßen des Viertels mit Leben? Wer sind die Personen, die hinter dem namhaften Kiez stehen? Ob Pfandsammler, Dragqueen oder Stadtführer – das fehlende Publikum setzt ihnen schwer zu. Sie erzählen, was sie bewegt und wie sie trotz gähnender Leere auf dem Kiez nach vorne schauen.
Henning, Inhaber des "St. Pauli Office"

Hennings Laden mitten auf dem Kiez zeigt, wie viel St. Pauli auf knapp 60 Quadratmeter passt. Zwischen regionalen Schnäpsen, Postern von lokalen Künstlern und Künstlerinnen und jeder Menge anderer Pauli-Accessoires steht der Schreibtisch, an dem sich Henning durch die Krise kämpft. Der 48-Jährige lebt seit den 90er-Jahren auf dem Kiez, nennt ihn seine Heimat und seinen Lebensmittelpunkt. Neben dem "St. Pauli Office" betreibt er noch die Bar "Eldorado", in der er nur wenige Straßen weiter normalerweise dutzende Gäste empfängt - sieben Tage die Woche.
Das beste am Job? "Die vielen Menschen aus aller Herren Länder oder auch nur aus der Nachbarschaft zu treffen." Henning hat sich für die Selbstständigkeit und gegen einen geregelten Alltag entschieden, die Corona-Pandemie wirbelt dennoch alles durcheinander: Der Laden und die Bar sind geschlossen, Kiez-Touren finden nicht statt. Doch "das Leben verläuft chronologisch", meint Henning, irgendwie gehe es immer weiter. Unendlich lange könne er Bar und Office so trotzdem nicht halten, schließlich fehle es aktuell an 90 Prozent der Einnahmen – die Hilfen vom Staat würden schon lange nicht mehr reichen. "
Anfangs war die Corona-Zeit auf St. Pauli irgendwie magisch", erinnert sich Henning. Mittlerweile sei der ihm sonst so vertraute Kiez unberechenbar und die Stimmung aggressiver, Gereiztheit liege in der Luft. Wenn er sich erinnert, wie es früher war, gerät er ins Schwärmen: "St. Pauli ist normalerweise ein Ort der Toleranz gegenüber den verschiedensten Lebensmodellen." Momentan seien alle Lichter aus – "viele Leute leiden unter der Situation." Auch er habe damit zu kämpfen, sein Blick in die Zukunft ist trotzdem zuversichtlich. Auf die Frage, ob der Kiez wieder der alte werden würde, resümiert Henning grinsend: "St. Pauli verändert sich doch sowieso immer." Fest stünde: Es wird weitergehen, es wird weiter gefeiert werden – da ist er sich sicher.
Rafael, Pfandsammler auf St. Pauli

Wenn nicht gerade Pandemie ist, sagt Rafael, sei das Pfandsammeln auf dem Kiez eine gute Einnahmequelle. Der 47-Jährige sammelt seit 2018 die Flaschen und Dosen von St. Paulis Partygängern und verdient sich damit seinen Lebensunterhalt. An manchen Wochenenden kriegt er so bis zu 200 Euro zusammen – aktuell gebe es auf den Straßen des Kiez allerdings so wenig Pfandgut wie Menschen. Loszugehen, das lohne sich für ihn nicht mehr.
Rafael war immer gut organisiert und suchte sich systematisch Orte, an denen viel zu holen war. Er hortete seine Einnahmequellen aus Kunststoff und Aluminium in verschiedenen Verstecken, während er mit seinem Fahrrad zwischen Party-Hotspots und Szene-Kneipen rotierte. Der Kiez ist dabei nicht nur sein Arbeitsort. Die bunte Atmosphäre habe den Münchner schon immer begeistert, sagt er und trinkt noch einen Schluck von seinem Kaffee: "Es ist schon befremdlich, wenn man aktuell auf St. Pauli unterwegs ist. Hier bricht gerade eine Szene zusammen." Schließlich seien es St. Pauli und seine vielen Gesichter, die Hamburg ausmachten. Beim Pfandsammeln sei Rafael immer mit vielen Menschen in Kontakt gekommen – ein netter Spaziergang mit Nebenverdienst, sagt er.
Jetzt hat sich Rafaels Alltag von den Straßen des Viertels ins CaFée mit Herz verlagert, einer Anlaufstelle für Menschen, die am Rande des sozialen Netzes leben. Hier jobbt Rafael ehrenamtlich und kümmert sich um jene, die es ähnlich schwer haben wie er selbst. Vor knapp einem Jahr halfen ihm die Angestellten dabei, seine Platte gegen ein Zimmer einzutauschen und die Obdachlosigkeit hinter sich zu lassen. "Ich mache mir Sorgen um die, die jetzt auf der Straße leben", sagt er mit ernstem Blick. Viele Leute seien auf Entzug und die Stimmung aggressiv.
Ohne Tourismus und Partyszene werde nicht nur weniger Pfand gesammelt, sondern auch weniger geschnorrt. Diese fehlenden Einnahmen seien die eine Sache – ein weiterer Punkt, der für Verunsicherung sorgt, sei der Mangel an Informationsquellen für Obdachlose: "Niemand weiß, wie der aktuelle Stand rund um die Corona-Pandemie ist. Deswegen haben viele Angst", erklärt Rafael. Insgesamt sei es eine traurige Entwicklung auf dem Kiez und Corona drohe vieles zu zerstören, was der Pfandsammler so an St. Pauli schätzt.
Marcus, Inhaber des "St.-Annen-Hotels"

32 Zimmer mitten auf St. Pauli sind der ganze Stolz von Marcus. Er ist leidenschaftlich gerne Hotelier, und nichts wurmt ihn so sehr, wie ein unzufriedener Gast. Eine Auszeit gönne er sich normalerweise nur an wenigen Tagen im Jahr, und auch während des Lockdowns sei Marcus jeden Tag im Hotel gewesen, auch wenn die Gäste fernblieben. Aufgaben suchen – so lotst sich der 53-Jährige durch die Krise. Sein Mantra: "Wir dürfen keinerlei Abstriche machen, sondern müssen noch eine Schippe drauflegen."
Er erzählt von neuen Kaffeemaschinen und Klimaanlagen auf den Zimmern, Dankeskarten für Unterstützer und Unterstützerinnen. Diese kleinen Erfolge und Errungenschaften helfen ihm durch seine "graue Grundstimmung", verursacht durch eine Mischung aus Sorge um sein St. Annen, den hohen Corona-Infektionszahlen und dem norddeutschen Winterwetter. Den Kopf in den Sand zu stecken, das käme für ihn nicht in Frage. Hamburg werde auch nach der Corona-Pandemie attraktiv für Touristen und Touristinnen sein.
Dennoch: Marcus erlebt gerade Verluste, die durch staatliche Finanzhilfen nur schwer auszugleichen sind. Immerhin: Dank des Weinhandels, den er nebenher betreibt, ist er finanziell abgesichert. Marcus ist ein Planer: In den kommenden Jahren standen eigentlich weniger Arbeit und mehr Zeit für die Familie auf der Agenda, doch die Pandemie macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Eingeplante Freiheiten muss der Hotelier zukünftig doch gegen Schichten im Hotel tauschen.
Der Gedanke, dass er die derzeitige Situation nicht selbst zu verantworten hat, helfe ihm durch diese schwere Zeit. Genauso wie seine positiv gestimmten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, aber auch der Kiez und die direkte Nachbarschaft. "Das sind Menschen, die ihr Herz am richtigen Fleck haben", meint er. Gemeinsam bleibe man mit dem Kopf über Wasser. Der Blick des Hoteliers in die Zukunft ist trotz allem positiv: "Wenn die Gäste wiederkommen dürfen, sind wir bereit." An Tagen, an denen er sich auf dieses Szenario vorbereitet, etwas dafür schafft, an diesen Tagen ginge es ihm am besten.
Dominik, Kiezführer auf St. Pauli

Touristen aus aller Welt seine Lieblingsecken Hamburgs zeigen – das ist für Dominik mehr als nur ein Beruf. Das "große Dorf", wie er seinen Kiez liebevoll nennt, ist seit 20 Jahren Zuhause und Arbeitsplatz für Dominik. Keine zwei Schritte in Richtung Wohlwillstraße ist der Stadtführer in seinem Element und beschreibt leidenschaftlich, welche Geschichten die bunten Wände St. Paulis erzählen. Vier Mal ist er schon innerhalb eines Radius von 100 Metern umgezogen, heute lebt er gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern mitten im Geschehen. Freizeit und Arbeit lassen sich gut vereinbaren, wenn man direkt vor der eigenen Haustür in den Arbeitsalltag starten kann.
Vor der Corona-Pandemie war jeder Tag der Woche gebucht und gefüllt mit Reiselustigen und Kulturfans. Auch das vergangene Jahr sollte vielversprechend werden: Schon Ende 2019 waren die Plätze für Touren im folgenden Jahr restlos vergeben. Seit mit der Pandemie die Gäste ausbleiben, hilft ihm nur noch sein Zweiterwerb als Italienischlehrer über die Runden, denn für finanzielle Hilfen des Staates qualifiziert er sich nicht. "Morgens die Decke über den Kopf ziehen und weiterschlafen", antwortet der 50-Jährige scherzhaft auf die Frage nach seinem derzeitigen Alltag.
Doch zum Lachen ist ihm eigentlich schon länger nicht mehr zumute: "Spätestens der Lockdown light ab November 2020 hat uns Stadtführern endgültig das Genick gebrochen", erinnert sich Dominik. In der Zeit der Pandemie habe er seine Berufswahl immer wieder in Frage gestellt und sich gewünscht, einfach angestellt zu sein. Ein Stückchen Sicherheit zu haben.
Von der Gesellschaft wünscht er sich mehr Solidarität und Beachtung der finanziellen Sorgen von Freischaffenden wie ihm. In Zukunft werde das Reisen ein anderes sein, ist sich Dominik sicher - die vielen kleineren Leute, die die Tourismusbranche auf St. Pauli prägen, haben zu kämpfen. Schaffen sie es nicht durch die Krise, würde nicht nur der Charakter des Viertels verloren gehen, sondern sich auch die Türen für Großinvestoren und -investorinnen öffnen.
Doch Dominik möchte es weiter versuchen und schmiedet Pläne für die Zeit nach Corona. Er wolle verstärkt auf nachhaltigen Tourismus setzen und seine Besucher und Besucherinnen zu Fuß oder mit dem Fahrrad durch die Hamburger Gassen führen. Ideen hat er viele – die Leidenschaft für seinen Beruf als Stadtführer ist nach wie vor da. Bald folgen hoffentlich auch wieder die Aufgaben.
Veuve Noire, Dragqueen und Mitglied der Olivia-Jones-Familie

Anstelle von schrillen Neonlichtern oder heller Bühnenbeleuchtung wird Veuve Noire gerade von zwei Bildschirmen angestrahlt. Was macht man während einer Pandemie, wenn man beruflich wilde Partys veranstaltet? Veuve hat einen wöchentlichen Livestream ins Leben gerufen, mit dem sie ihre Fans bei Laune hält. Ihre Show "The Drag Attack" bringe den Kiez via "Twitch" in die Wohnzimmer ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer. "Die Welt vermisst St. Pauli", sagt die Dragqueen ernst. Und auch ihr selbst fehlt die einzigartige Atmosphäre ihrer Nachbarschaft. Es gebe keine Energie mehr, niemand feiert, dass man am Leben ist. Es sei gruselig zu sehen, wie von der einen auf die andere Sekunde alles zusammenbrechen kann – aber auch augenöffnend. Denn es wirke immer so, meint Veuve, als seien Entertainer und Entertainerinnen wie sie unwichtig, "doch wir sind systemrelevant", sagt sie entschlossen.
"Die Leute brauchen uns, um frei sein zu können, um zu feiern und sich fallen zu lassen." Ihr Streaming-Studio hat sie in der oberen Etage der Olivia Jones Bar eingerichtet, mitten auf der Großen Freiheit. Dort, wo früher unzählige Besucher und Besucherinnen gefeiert haben, geht momentan kein Getränk über den Tresen. Die Bar ist auch der Ort, an dem Veuve Noire vor knapp acht Jahren ihre Berufung fand, als sie von der Olivia Jones Familie adoptiert und "ein zweites Mal geboren wurde", wie sie sagt. Eigentlich stammt die Dragqueen aus einem Dorf, in dem sie wegen ihres bunten Erscheinungsbildes auch mal angefeindet wurde. Solche Erfahrungen sind keine Seltenheit, weiß Veuve, weswegen ihr das Projekt "Olivia macht Schule" für Toleranz und Vielfalt besonders am Herzen liegt. Doch auch ihre Vorträge an Schulen, Kitas oder in Betrieben müssen derzeit pausieren. Ihrer Passion nicht nachgehen zu können, das stimme sie oft traurig.
Wann wieder Party-Publikum kommen dürfe und wie der Kiez dann wohl aussehen werde – diese Fragen beschäftigen die Dragqueen. Um die ein oder andere Urkneipe sorgt sie sich: "Die paar Münzen, die es gibt, reichen hinten und vorne nicht." Die gedrückte Stimmung überwinde sie dann am besten mit Gedanken daran, dass ihr gewohntes Leben irgendwann wieder weitergeht. "Die erste Party, die wir hier feiern, das wird eine Halligalli-Drecksauparty – Abriss von der feinsten Sorte", erzählt die Partyqueen lachend, während sie in der verlassenen Bar sitzt und die Lichter in ihrem Streaming-Studio anknipst. Feiern könne man zwar überall, aber nirgends so schön wie auf St. Pauli.