Jetzt müsste ich mich fallen lassen, rücklings. Aber ich kann nicht. Noch nicht. Ich muss erst noch schauen. Schaue hinein in die unterirdische, nur spärlich vom Licht dreier Stirnlampen erhellte Halle. 40 Meter hoch, 25 Meter breit, 100 Meter lang. Darin liegt, fast zehn Meter tief, ein See, schwarz wie ein Tintenfass. Aus dem Wasser ragen Felsen empor, hohe Säulen, senkrechte Wände, enge Nischen, über und über mit Sinter und Tropfsteinen bedeckt.
"Tom! Hey, was ist los?" Die Stimme von Andreas Kücha durchbricht die Stille. Er und Jochen Malmann, beide Höhlenforscher, haben mich hergeführt: an einen Ort, den bisher nur wenige Auserwählte gesehen haben. Wir sind in der Blauhöhle, genauer gesagt im "Mörikedom", einen Kilometer nordwestlich vom Blautopf. "Hey, jetzt steig ein, wir müssen los!" Vorbei die Zeit des Staunens und Sinnierens. Jetzt heißt es paddeln.
Aus dem Wasser zum Stairway to Heaven
Kücha und Malmann zählen zu einer Handvoll Höhlentaucher, die aus den 1250 Meter langen, gefluteten Gängen lebend herausfinden können. Als Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Blautopf, deren Ziel die wissenschaftliche Erforschung des Höhlensystems ist, wagten sie sich seit 1997 immer tiefer in diese Unterwasserwelt.
Heute muss man nicht mehr tauchen können, um in die Halle zu gelangen. Im April 2008 - Kücha und Malmann waren inzwischen Hunderte Male vom Blautopf zum "Mörikedom" getaucht - stiegen sie mit ihrem Kollegen Michael Kühn aus dem Wasser und den "Stairway to Heaven" empor. Kücha hatte diesen Gang zwei Monate zuvor entdeckt.
Direkt unter der B28
Es war Freitagnachmittag. Als die drei Höhlenforscher den höchsten Punkt des Ganges erreicht hatten, hörten sie Geräusche, die sie noch nie in der Höhle wahrgenommen hatten. Es dauerte eine Weile, bis ihnen klar wurde: Das waren die Motorbremsen der Lastwagen, die die Blaubeurer Steige hinunterfuhren! Die drei Männer saßen direkt unter der Bundesstraße B28.
Tauchend wäre ich nie durch den "Mörikedom", das "Mittelschiff " und den "Äonendom" bis zur "Pforte" gelangt. Hier beginnt jener Teil der Höhle, der oberhalb des Wasserspiegels liegt. Als ich mühsam ans Ufer wate, versinke ich bis zu den Oberschenkeln im zähen Lehm.
Eine Stunde tauchen, neun Stunden klettern
Am 4. Dezember 2004 wagte sich Kücha an dieser Stelle zum ersten Mal an Land. Er entdeckte die trockene Fortsetzung des Blauhöhlensystems, einen breiten Gang und eine weitere Halle, in der bis zu zehn Meter hohe, weiße Tropfsteine vom Boden aufwärtsstreben.
Übernommen aus:
National Geographic Deutschland, Ausgabe April 2014. Dort finden Sie die ungekürzte Fassung.
Weitere Infos unter nationalgeographic.de/blauhoehle
Wir quälen uns im Inneren dieses Labyrinths durch eine winzige Luke, gerade groß genug für einen erwachsenen Mann. Sie erlaubt uns den Ausstieg aus einer Blockhalde, dem "Versturz 2". Ein Jahr, nachdem Kücha und Malmann das erste Hindernis überwunden hatten, konnten sie auch diese Sperre durchbrechen, indem sie einen großen Felsen wie einen Gullydeckel wegdrückten. Sie erreichten einen weiteren Höhlengang.
Immer länger wurden nun die Expeditionen in die Unterwelt, immer kräftezehrender, riskanter. Auf eine Stunde Tauchgang folgten neun Stunden Klettern, Krabbeln und Kriechen, dann der Unterwasserweg zurück in den Blautopf.
Wir steigen weiter, durch die kathedralengroße "Apokalypse". Wir lauschen dem Gurgeln der Blau in der "Halle des verlorenen Flusses". Eine Sinnestäuschung: Wer lang genug hinhört, glaubt, Stimmen zu erkennen. An einem Fixseil, das Kücha und Malmann bei einer früheren Expedition angebracht haben, hangeln wir uns 45 teils senkrechte Meter empor und wandern vorbei an seltsam geformten Tropfsteinen, an der "Krake", dem "Merlin", dem "Brautschleier", in den "Blaucanyon", wo das Wasser mit Urgewalt durch enge Spalten rauscht.
Vor uns liegt die Abzweigung in den "Friedhof der Kuscheltiere", einen ansteigenden, 130 Meter langen Gang, in dem der 45-Jährige einzelne Knochen und das gut erhaltene Skelett eines Marders fand. Kücha, schlank, hager, mit der Figur eines Langstreckenläufers, ist in seinem Element. Er wittert Neuland.
Unterirdisches Neuland
Und tatsächlich: Am hinteren Ende des Gangs öffnet sich ein Schacht, eine vertikale Bobbahn, glatt geschliffen vom Wasser, das vermutlich in den "Blaucanyon" stürzt. Dort will Kücha jetzt erstmals hinab. Während er Haken in die Wand treibt, ein Seil daran befestigt und seinen Klettergurt anlegt, alles zügig und vielleicht auch etwas nervös, setzt sich Malmann auf einen Stein und beobachtet seinen Freund.
Zwar kann sich Kücha an diesem Tag nicht bis hinunter in den "Blaucanyon" abseilen, weil er in dem schulterbreiten Schacht stecken bleiben würde. Doch er hört das Rauschen des Flusses. Eine neue Verbindung ist hergestellt, ein weiterer Gang im Labyrinth gefunden. Kücha stößt einen Juchzer aus. Malmann schmunzelt. Die Höhlenforscher sind zufrieden.