Herr Dittrich lacht. "Fünf Tage?" Herr Dittrich schüttelt den Kopf. "Für die Strecke braucht man zehn Tage. Vielleicht acht, wenn man gut ist." Kurze Zweifel - haben wir uns zu viel vorgenommen? Herr Dittrich weiß doch wohl, wovon er spricht; er hilft aus im Bootsverleih seines Sohnes hier in Beeskow, einem gemütlichen Städtchen im Südosten von Berlin. Jetzt stehen wir vor ihm und möchten zwei Wander-Kajaks, um eine knapp 200 Kilometer lange Runde über Brandenburger Flüsse und Seen zu paddeln, die sogenannte Große Umfahrt, einmal rund um den alten Kreis Beeskow/Storkow. Die Ruderer aus Beeskow machen diese Tour seit den 1920er Jahren. Also keine Zeit verlieren, denn um zehn Uhr öffnet sich die Schleuse in der Spree.
Wir steigen in die Boote, mit uns warten drei Angler in ihren Kähnen sowie zwei Dresdner in einem Zweierkajak. Die Dresdner ziehen schnell davon - Kunststück, mit Doppelantrieb! -, und wir sind allein auf dem Fluss, der sich durch die pralle Natur in Richtung Norden windet. Vorbei an Wiesen und Weiden, an Kiefern und Erlen. Die einzigen Lebewesen, die wir für lange Zeit sehen, sind Kormorane und Fischreiher über uns, Enten und Schwäne neben uns und am Ufer Angler, die auf Brassen und Welse gehen.
Am Nachmittag biegen wir ein in den verwaisten Oder-Spree-Kanal, die Ufermarkierung zeigt Kilometer 88, bei 74, in Fürstenwalde, liegt unser Ziel für heute. Unterwegs verfolgt uns ein stetiges Grollen, seit Tagen ziehen Gewitter durch Brandenburg. Wir fühlen uns stark, wir hauen rein und erreichen die Stadt am frühen Abend, vor dem Unwetter. Am Ortseingang grüßen die Silos einer Futtermittelfabrik, am Ruderklub wartet schon Gerald Angerik, dem wir per Handy unsere Ankunft angekündigt haben.
Wer viel Zeit hat, sollte sie sich hier auch nehmen
Nachdem wir die Kajaks im Bootshaus verstaut haben, bietet er uns ein Quartier an in der Unterkunft der Ruderer, der "Villa Strohsack": Etagenbetten, Küchenzeile, Dusche, für fünf Euro pro Person. Dazu eine volle Kiste Bier, "das Geld in die Kasse des Vertrauens!" Wir aber wollen uns das "Haus Spreebogen" gleich nebenan gönnen. "Hotel - Restaurant - Fitness" heißt es an der Außenwand. Hotel: genau! Restaurant: unbedingt! Fitness: Danke, hatten wir heute genug. 40 Kilometer liegen hinter uns, knapp zehn Stunden saßen wir im Boot. An den Fingern nur zwei kleine Blasen - geht doch.
Eine Runde Brandenburg
Zur Großen Umfahrt kann man an fast jedem Ort entlang dem knapp 200 Kilometer langen Rundkurs aufbrechen; das stern-Team ist in Beeskow gestartet. Kajaks verleiht dort Albatros Outdoor, Bertholdplatz 6, Tel.: 03366/15 33 75, www.albatros-outdoor.de.
Entweder einfach drauflospaddeln (aber vorher realistisch die eigene Leistungsfähigkeit einschätzen!). Oder die Große Eine Runde Brandenburg Umfahrt als Paket buchen mit elf Übernachtungen/F und Zweier-Kajak für 549 Euro p. P. über: Tourismusverband Oder- Spree-Seengebiet, Tel.: 033631/ 868-100/101; www.seenlandos.de. Dort gibt es auch eine Liste mit Unterkünften entlang der Strecke.
Buch: Tipps für Ausrüstung, Verhalten auf dem Wasser et cetera in "Kanuwandern" von Norbert Blank, Bruckmann, 8,90 Euro.
Auch am folgenden Tag herrscht Ruhe auf dem Oder- Spree-Kanal. Früher brachten hier Lastkähne Kies von Polen nach Berlin. Jetzt ist auf dem Kanal nichts mehr los. Wieder auf der Spree gibt es dann kein Entkommen mehr vor dem Unwetter. Als die ersten Tropfen fallen, legen wir an, um die Anoraks anzuziehen. Doch mit dem Wolkenbruch ist auch das Gewitter da: Die Regenkleidung gibt auf, Blitze zucken um uns herum. Wie war das noch: Die Sekunden zwischen Blitz und Donner verraten, wie viele Kilometer das Gewitter entfernt ist? Weit ist es nicht.
Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Am Abend erreichen wir den Dämeritzsee, übernachten in Berlin, Ortsteil Hessenwinkel, dem nördlichsten Punkt unserer Tour. Von hier geht es durch den Gosener Kanal wieder Richtung Süden. Zwei Herren im Ruderboot ziehen an uns vorbei. Kurz vor dem Seddinsee drehen sie um, wir sehen bald, warum: Heftiger Wind bläst uns entgegen, das Wasser ist aufgewühlt, die nächsten drei Kilometer sind ein hartes Stück Arbeit. Endlich die Einfahrt zum Zeuthener See, Villa reiht sich an Villa, Freizeitkapitäne fahren ihre Boote spazieren. Hinter der Schleuse, in Königs Wusterhausen, haben wir das Wasser wieder für uns.
100 Kilometer in zweieinhalb Tagen
Wir liegen im Soll, Herr Dittrich! 100 Kilometer nach zweieinhalb Tagen. Beim Italiener in Zernsdorf feiern wir Bergfest, klopfen uns bei Pizza und Tiramisu gegenseitig auf die Schultern. Als wir zum Wasser zurückkehren, zieht Peter aus Berlin gerade seinen Kajak aus dem Wasser, "Eisern Union" steht auf dem Bug. "Woher? Wohin?", fragt er. "Wir paddeln die Große Umfahrt." Hat Peter auch mal gemacht, 1977. "Aber in fünf Tagen!" Länger hat er auch nicht gebraucht. Demütig steigen wir in unsere Boote. Gegen neun Uhr am Abend legen wir vorm Waldhaus Prieros an. Zwei Zimmer? Kein Problem. Aber die Küche ist bereits geschlossen, also drei Kilometer zu Fuß durch den Wald in den Ort.
Manchmal, Herr Dittrich, das wollen wir gern zugeben, ist unser Programm wirklich beschwerlich. Zum Beispiel, als wir am Morgen unseres vierten Tages aufwachen. Die Sonne scheint, die Schultern sind müde, die Arme lahm. Wir frühstücken auf der Terrasse und schauen auf den glitzernden See. Jetzt auf den Rasen legen, lesen und baden und am Nachmittag vielleicht aufbrechen ... Leider haben wir keine Zeit. Auf dem Dahme-Umflutkanal in Richtung Süden sind wir für einen Moment mal nicht allein: Ruderer in zwei Vierern und einem Zweier sausen an uns vorbei. Dann herrscht wieder Stille. Die Frauen haben den deutschen Osten verlassen, stand mal in der Zeitung. Wie es aussieht, sind die Männer ihnen gefolgt.
In Märkisch-Buchholz stürzt uns das Wasser aus vier Meter Höhe entgegen. Natürlich gibt es eine Bootsschleppe, sogar eine Schleppe de luxe, betrieben von einer Seilwinde. Doch die Gebrauchsanweisung liest sich so kompliziert, dass wir die Boote lieber den steilen Hang hochwuchten. Wir streifen den Nordrand des Spreewalds, beeilen uns, rechtzeitig in Alt Schadow zu sein. Die Schleuse dort öffnet nur zur vollen Stunde, wir wollen die Boote heute nicht noch mal schleppen.
Am letzten Morgen fällt das Aufstehen wieder ein bisschen schwerer. Aber nur noch 30 Kilometer liegen vor uns, da macht der Gegenwind auf der jetzt breiten Spree uns auch nichts mehr aus. In der nächsten Schleuse treffen wir vier Frauen in zwei Booten. Sie sind in Erkner bei Berlin gestartet, und sie sind ebenfalls auf Großer Umfahrt, aber sie lassen sich zehn Tage Zeit. "Zusammen sind wir über 250 Jahre alt", sagt eine der Frauen. Donnerwetter, Basecap ab! Die letzten Kilometer auf der Spree fühlen sich an wie das Finale der Tour de France: Die Entscheidungen sind gefallen, alle können es entspannt angehen lassen. Kleiner Unterschied: Die Radler werden gefeiert von Massen, rollen über die Champs-Élysées nach Paris ein, wir schippern mutterseelenallein hinab nach Beeskow.
Nach 200 Kilometern und gut 50 Stunden im Boot ziehen wir unsere Kajaks an Land. Geschafft, Herr Dittrich: die Große Umfahrt in fünf Tagen! Aber klar: Wer mehr Zeit hat, sollte sich die in dieser prächtigen Gegend auch gönnen. Herr Dittrich ist nicht da. Stattdessen nimmt uns sein Sohn Mike in Empfang. "Das war eine anständige Leistung von euch, Jungs!" Danke, das wollten wir hören.