Schwarz. Noch wehrt sich der See gegen die Dämmerung. Er hält die Dunkelheit gespeichert und plätschert leise im Schilf, gleichmäßig, kurzatmig wie ein schlafendes Baby. Eine schlanke Frau tritt ans Ufer, lässt ihr Handtuch fallen und schlüpft behutsam unter seine Decke. Schritt für Schritt, nur kleine Wellen. Sie will ihn auf keinen Fall wecken. Jeden Tag genießt sie das: "Dieser Geruch am Morgen, und wie weich er ist, diese Ruhe..." Es ist fast hell, wenn sie nach einer kleinen Runde wieder aus dem Wasser steigt. Weiter draußen hängt der Nebel nur noch in Fetzen über dem See. Und Gudrun Hiersemann sieht auch bei Tageslicht nicht aus wie 80, sondern jünger und frisch und glücklich. Oft ist ihr 82-jähriger Mann Wilhelm dabei, der dann nichts weiter trägt als seinen Herzschrittmacher. Hinterher gehen sie Hand in Hand zurück zu ihrem Zelt, wie ein Liebespaar im ersten Urlaub.
"Hier ist es nicht so exklusiv"
"Wenn ich in meinem Kanu sitze und über die Wellen schaukele, die der Schaufelraddampfer zu mir rüberschwappen lässt, dann fühle ich mich so richtig wohl", sagt Tobias Paninka aus Donauwörth, der seine Freizeit gern am Ammersee verbringt. "Hier ist es einfach noch nicht so ,exklusiv" wie zum Beispiel am Starnberger See, die Uferregion ist besser zugänglich und das Naturerlebnis durchaus ebenbürtig." Neben dem Kanufahren und Schwimmen an einem der zahlreichen Badeplätze unternimmt Tobias Paninka auch gern Wanderungen in der näheren Umgebung des Sees. Zum Beispiel von Herrsching nach Andechs, eine Berg-und-Tal-Tour durch dichten Buchenwald und das Kiental mit steilem Aufstieg bis zur Rokoko-Kirche auf dem "Heiligen Berg" "wo man sich natürlich im Biergarten der Klosterbrauerei eine zünftige bayerische Brotzeit verdient hat".
Es ist nicht irgendeine Scham, die das alte Ehepaar so früh am Morgen ins Wasser treibt - es ist ein Ritual seit 33 Jahren. Es ist auch nicht irgendein See, der ihnen dann für ein paar Minuten ganz allein gehört, sondern einer der schönsten und natürlichsten Deutschlands. Kein Ort, keine Straße, nicht einmal ein Bikini stört seine Ufer. Für Motorboote ist er gesperrt. Nur Schilf und Buchen, Wasser und Himmel, seltene Tiere und nackte Menschen - jeder Fetzen Textil, so scheint es tatsächlich, würde diese heile Welt aus dem Gleichgewicht bringen.
Zum Angeln wie gemacht
Natürlich kann Olaf Niepagenkemper einen See allein seiner schönen Lage wegen genießen, aber da ist immer noch etwas anderes, das ihn reizt: Der 39-Jährige angelt seit seinem dritten Lebensjahr leidenschaftlich gern und arbeitet obendrein als promovierter Biologe beim Fischereiverband Nordrhein-Westfalen. In den vielen kleinen Buchten des Sorpesees findet man immer einen versteckten Winkel, wo man vom Alltag abschalten und gut fischen kann." Zu angeln gibt's eine Menge für Niepagenkemper und Georg Anhoff, der mit ihm das Hobby teilt: In dem acht Kilometer langen Stausee stecken besonders dicke Hechte. Die beiden Münsteraner aber finden die Große Maräne wesentlich interessanter, weil sie schwer zu fangen ist und somit nur Könnern an den Haken geht. Die lassen ihren erholsamen Angeltag gern im "Hotel Seehof" in Langscheid ausklingen, "denn da hat man einen besonders schönen Blick auf den See".
Paradies und Jungbrunnen
Ihr "Paradies" nennen Hiersemanns den See, ihr "Jungbrunnen" ist er sowieso, und seit die beiden Lehrer in Rente sind, ist der kleine Zeltplatz im Wald außerdem so etwas wie ihr Hauptwohnsitz. Von April bis Oktober leben sie hier - nur wo genau, das soll eigentlich lieber nicht verraten werden. Irgendwo in Mecklenburg müsse doch reichen, meinen sie. Ihretwegen auch noch, dass es von Hamburg oder Berlin aus nur je zwei Autostunden sind. Aber dass es um den Rätzsee geht - den "Rätz", wie alle Eingeweihten sagen -, das müsse ein Geheimnis bleiben.Leider passt das journalistische Recht auf Zeugnisverweigerung nicht recht zu einer Geschichte mit Reisetipps. Deshalb haben wir gebettelt und gefeilscht - mit Erfolg. Vielleicht, so trösten sich die Eingeweihten, schreckt ein kompletter FKK-See ja auch viele Leute ab.Gudrun und Wilhelm Hiersemann verbringen seit 1971 jeden Sommer hier. Erst waren die Kinder mit, später die Enkel, die nun auch schon erwachsen sind. "Jetzt haben wir die Natur wieder ganz für uns allein", sagt Gudrun Hiersemann und klingt beinahe etwas wehmütig, bevor sie noch wehmütiger anfügt: "Fast." Denn natürlich war sogar im Paradies früher alles noch ein bisschen besser.
Schon die Eiszeit hatte es besonders gut mit dem Rätz gemeint und schürfte ihn etwas abseits der Seenplatte bis zu 33 Meter tief in die Mecklenburger Erde. Er ist knapp acht Kilometer lang und bis zu 500 Meter breit. Zwei idyllische Kanäle verbinden ihn mit tausend anderen Seen, die sich quer durch das südliche Mecklenburg-Vorpommern ziehen. Auf der Landkarte wirkt er wie ein Umweg der Hauptwasserstraße zwischen Müritz und Havel mit einem kleinen Zeltplatz am nördlichen Ende.
"Für jeden ist etwas dabei"
Wenn sich Familie Latour in den Sommerurlaub aufmacht, dann ist seit 15 Jahren der Chiemsee ihr Ziel. "Ursprünglich war er unsere Zwischenstation auf der Fahrt in den Süden", sagt Detlef Latour, der in Köln als Schadenregulierer bei einer Versicherung arbeitet. Inzwischen genießen die vier Latours, neben Vater Detlef noch Mutter Regina sowie die 17- und 15-jährigen Töchter Alessa und Romana, den sommerlichen Aufenthalt in einer Bauernhofpension und das gute Essen. Zum Beispiel deftig in den "Mesner-Stub'n" in Urschalling bei Prien oder etwas feiner im "Wassermann" in Seebruck. Zudem schätzen die Kölner am Chiemsee die vielen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. "Für jeden ist etwas dabei", sagt der 58-jährige Vater. "Meine Frau und ich fahren gern Rad, da ist die Gegend hier ideal, auch fürs Bergwandern, zumal die Alpen vor der Haustür liegen." Auch Ausflüge in die Umgebung sind vom Chiemsee gut zu machen. "Reit im Winkel, Berchtesgaden, Bad Reichenhall liegen in unmittelbarer Nähe", sagt Detlef Latour, "und manchmal fahren wir über die Grenze nach Salzburg."
Leipziger Wasserwanderer, so die Legende, haben die Lichtung am Ufer Anfang der 60er Jahre entdeckt. Jemand hat die örtliche LPG, die Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaft, gefragt, ob es gegen Nacktbaden Einwände gäbe. Es gab keine. Weil man die ersten Jahre unter sich blieb, zogen sich die Paddelfreunde auch beim Landgang nichts an. Mit dem FKK-Boom der 70er und 80er Jahre wurde der "C 28", so die alte DDR-Bezeichnung, zu einem beliebten Urlaubsziel. Wer sich nicht um die Weihnachtszeit anmeldete, fand in den Sommerferien keinen Platz mehr. Eine treue Gemeinde kehrte jedes Jahr zurück, inzwischen nicht selten in dritter Generation, und so hat sich das Leben am See in den vergangenen 30 Jahren kaum verändert.
Nie ist es langweilig
Lediglich ein neuer Sanitärtrakt kam vor kurzem auf den Campingplatz, seit ein paar Jahren haben Hiersemanns ihr Zelt gegen einen kleinen Wohnwagen mit Vorzelt getauscht, neuerdings haben sie ein Handy dabei, falls doch mal was ist. Aber sonst? Nur die fünf kältesten Monate überwintern sie jetzt noch in Leipzig. Jedes Jahr fangen sie im April mit Wassertreten an. Da ist der See noch zehn bis zwölf Grad kalt und so stahlblau wie das ganze Jahr nicht mehr. Tag für Tag geht es ein paar Schritte tiefer. Jeder Monat hat seine eigene Wasserfarbe, so wie jede Stunde des Tages auch. Und ab dem 1. Mai wird geschwommen, egal wie kalt.Langweilig ist es den Hiersemanns noch nie geworden. Sie sammeln Brombeeren oder Holunder und machen Marmelade daraus, lösen Rätsel oder laufen ihre Runde zum Märchensee. Der soll noch klarer und sauberer sein als der Rätz und sei zu Fuß nur ... Konrad Hiersemann stockt, das geht ihm nun wirklich zu weit.
Fridolin kommt zum Frühstück
Wenn die Temperaturen es zulassen, sitzen Gudrun und Wilhelm schon im Mai nackt beim Frühstück. Jeden Tag kommt ein Fink zu Besuch, den sie schon so gut kennen, dass er Fridolin heißt und einen eigenen Napf hat. Nachts sortiert ein Waschbär den Müll im Vorzelt. Und in der Vorsaison kommen die Rehe so nah, dass sie die Blumen vom Campingtisch fressen."Nach so einem Ort haben wir uns immer gesehnt", sagen auch Anne und Holger aus Göttingen, die den Campingplatz vor fünf Jahren entdeckten. Sie hatten auf der Karte nach einem weißen Fleck mit Wasser gesucht, und als die Straße zu einem Sandweg wurde und schließlich nicht mehr weiterging, waren sie da. Erst hatten sie Angst wegen der rechten Schläger im Osten, jetzt kommen sie jedes Jahr wieder: "So wild und frei und mitten im Wald - das gibt es im Westen gar nicht mehr." Aber bitte, flehen die Göttinger, "machen Sie keine Werbung". Bloß nicht in die Zeitung!
Die einzige Rechtfertigung für den Verrat bleibt, dass diese Art Urlaub nicht jedermanns Sache ist, ohne Strom und Badehose, nur Wald und Wasser. Für bestimmte Menschen kann das allerdings eine ganze Menge sein. Sie schwimmen und suchen Pilze, angeln oder bauen sich provisorische Möbel aus Holz. Sie stehen nackt am Grill und schleppen jeden Tropfen Wasser über weite Strecken zum Zelt. Hier ein Floß, dort ein Fisch, für immer Huckleberry Finn. Der FKK-Zeltplatz C28 ist ein wildromantischer Zeltplatz ohne Betonwege und penible Stellplatzordnung, nichts für Kleingärtner in Lauben auf Rädern. Und wer sich nackt nicht wohlfühlt, fühlt sich hier bestimmt nicht wohl.Wenn die Sonne am höchsten steht, füllt sich der kleine Strand am Steg, und der See schimmert wie eine Libelle. Braun am Rand, wo die Kinder toben, und grün weiter draußen, wo die Erwachsenen auf Luftmatratzen treiben. Gold, wenn die Sonne mit den Wellen spielt, und in der Mitte tiefblau. Den ganzen Tag über ziehen Paddelboote vorbei, einzeln oder in Rudeln, jedes Jahr mehr. Sie machen die so genannte Rätzsee-Runde, einen gemütlichen Tageskurs über den benachbarten Gobenowsee und den oft stürmischen Labussee. Auf dieser kleinen Runde ist alles drin, was ein passionierter Paddler braucht oder einen Anfänger für immer gefangen nimmt: stille Kanäle und "offene See", eine Schleuse zur Abwechslung und ein bisschen gefühlter Amazonas. Mehrere Ausleihstationen halten von der Schwimmweste bis zum 10er-Kanadier alles bereit.
Angenehme Gäste
Die Boote gleiten zwischen umgestürzten Bäumen und sumpfigen Ufern durch Seerosenfelder. Fischreiher drehen sich müde um oder steigen genervt auf, eine Ringelnatter schlängelt sich erhobenen Hauptes durchs Schilf. Haubentaucher verschwinden vor dem Bug, um 30 Meter weiter mit einem Fisch im Schnabel wieder aufzutauchen. Wer das Paddel geräuschlos einsticht wie ein Indianer, kann sich ganz dicht an den Tieren vorbeischleichen. Von den Kanuten auf größerer Tour übernachten viele am Rätzsee. "Die meisten Wasserwanderer sind angenehme Gäste", sagt Gudrun Hiersemann. Sie bauen ihr Zelt auf, kochen sich ein Süppchen auf dem Spirituskocher und fallen danach sofort mit schweren Armen in den Schlafsack.Laute Boote mit lärmenden Menschen dürfen nicht auf den Rätz. Der einzige Motorkahn, der zweimal pro Woche über den See tuckert, gehört einem Fischer, der dann seine Reusen leert. Ein paar Hechte und Zander verirren sich stets ins Netz. Bei Anglern ist der See vor allem seiner vielen Welse wegen beliebt. Aber auch das erzählen sie hier nur ungern weiter.Die kaum besiedelte Landschaft der Mecklenburger Seenplatte ist trotz aller Bemühungen der Einheimischen noch nicht dem Tourismus erlegen. Rund um den Rätzsee gibt es kein Hotel. Nur ein Dutzend Bootshäuser, die sich mit Schilf gedeckt an das Westufer schmiegen, versprechen etwas mehr Komfort als ein Zelt; sie sind aber in der Hauptsaison meist von Stammgästen oder den Eigentümern selbst belegt. Der zweite Zeltplatz am See ist ebenfalls FKK-Freunden vorbehalten - und doch ganz anders als der alte C28.
Brötchenholen wird zum Tagesausflug
Eine blickdichte Bretterwand hat Michael Lemberg um sein "Familien-, Freizeit- und Ferien-Naturcamp" gezogen. Es gibt Duschmarken und Chips für das automatische Tor, eine Pizzeria und einen Biergarten, Strom und TV-Anschluss. "Eben für echte Wessis", sagen eingefleischte C28-Camper süffisant. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit: "Da drüben gibt es ja nicht mal einen ordentlichen Spielplatz", sagt Lemberg, der tatsächlich aus Westdeutschland kam, bevor er 1999 auf einer Wiese an der Fleether Mühle zu bauen begann. "Schreiben Sie ruhig, dass wir jeden Tag frische Brötchen backen."Dagegen haben auch die Nackten vom anderen Ufer nichts. Wie die Hiersemanns, die gelegentlich zum Brötchenholen rüberpaddeln. Bei Gegenwind und etwa 14 Kilometern hin und zurück kann das gut zum Tagesausflug werden. Dann färbt sich das Wasser auf dem Rückweg vom Frühstück mit dem Himmel rot. Die Vögel am Ufer drehen noch einmal voll auf. Der See streckt sich und gähnt noch ein paar Blasen, bevor er dunkelblau in die Nacht dämmert und der Mond kleine silberne Wellen auf dem Wasser tanzen lässt.