Er rupft ein Blatt von einem Ast und rollt es zusammen. Es ist Sydney Peppermint, erklärt Evan Yanna Muru, eine von mehr als hundert Eukalyptusarten, die den Bergen ringsum ihre charakteristische Farbe geben: Die ätherischen Öle der Blätter lassen die Luft über den Tälern aus der Ferne betrachtet bläulich erscheinen. Zudem riechen sie gut, wehren Bakterien ab und machen wach. Yanna Muru rät, die Minz-Eukalyptus-Röllchen eine Weile in die Nasenlöcher zu stecken. Wach sein könne unterwegs nicht schaden.
Hundert Meter abseits der Bahnstation Faulconbridge, nur 90 Zugminuten von Sydney entfernt, beginnt der Busch, beginnen die Blue Mountains. Eine kleine Wandergruppe, vier Personen, folgt Yanna Muru hinein in die Wildnis. Mit jedem Schritt lernen die Wanderer vom 53-jährigen Guide mehr über die Natur in den Blue Mountains. Ein paar Hundert Meter weiter wissen sie bereits, dass reife Persoonia- Früchte wie Karamellbonbons schmecken, welche Gräser man kauen kann und welche sich besser als Webfasern eignen. Es ist ein "Walkabout", auf den Yanna Muru seine Gruppe einer Tradition seiner Vorfahren folgend führt – eine Wanderung, die den Kontakt zur Natur vertiefen soll und zugleich das Erbe der Aborigines vermittelt.
Im Sandsteingebirge ohne spitze Gipfel
Seit 15 Jahren organisiert der drahtige Australier Touren, schreibt Bücher und teilt sein Wissen über die Welt seiner Ahnen, der Darug. Bis vor 200 Jahren waren sie und die Gundungurra-Aborigines die einzigen Bewohner der Blue Mountains. Die Berge erheben sich von 100 Metern über dem Meeresspiegel auf 1200, ein steiles Sandsteingebirge ohne spitze Gipfel, erodiert im Laufe der Jahrtausende durch Flüsse und Bäche. Erst 1813 erreichten Europäer die Blue Mountains. Das heutige Weltnaturerbe ist nicht nur dramatisch schön, sondern auch artenreich: In der Region leben Hunderte verschiedene Wirbeltiere, darunter Koalas, Bergkängurus und Riesenbeutelmarder. Wanderer brechen von hübschen Orten wie Katoomba und Leura, Blackheath und Wentworth Falls auf in wilde Täler, zu Wasserfällen und spektakulären Steilwänden.
Unterwegs erzählt Yanna Muru von der "Dreamtime", jener Traumzeit, die die Vergangenheit durch Geschichten mit der Gegenwart verbindet. Der enge Kontakt zur Natur hat die Kultur der Menschen geprägt – Landschaft, Tiere, Pflanzen, Gesteinsformationen, Wetterphänomene oder Regenbögen. Hier, in der Wildnis der Blauen Berge, wird das uralte Wissen der Aborigines spürbar: Die sogenannten Songlines führen durch die Berge, Traumpfade, denen die Ureinwohner folgten.
Heilige Stätten der Aborigines
Der Abstieg in die Schlucht ist steil. Von Zweigen und Felsen tropft Wasser auf einen Trampelpfad, den wohl nur Yanna Muru kennt. Feiner Regen hat Stämme und Blätter glänzend grün gewaschen, die Luft duftet nach Teebaumöl und nasser Erde.
Die Gruppe setzt leise und konzentriert einen Schritt vor den anderen. Plötzlich unterbricht das keckernde Lachen australischer Eisvögel die Stille. Muru hält inne und zeigt auf zwei Kookaburras im Geäst. "Sie lieben feuchtes Wetter, weil es die Würmer aus dem Boden lockt." Er streicht über die knallrote Baumrinde einer Persoonia levis, die einst als Wundverband diente. Gleich daneben wächst saftiges Gras, das nach Lakritze schmeckt.
Joe Bocker aus Neuseeland kostet vorsichtig ein Blatt. Auf seiner Australienreise haben er und seine Frau Meg bereits andere Orte besucht, die für Aborigines bedeutsam waren, oft musste das Paar Distanz halten. "Mal war fotografieren verboten, mal wirkten die Vorführungen zu inszeniert", erzählt der Lehrer. Auf dieser Wanderung ist das anders. Evan Yanna Muru empfiehlt, so viele Gesteine, Moose und Pflanzen anzufassen wie möglich. "Je mehr Kontakt zur Umgebung, umso näher sind wir der Kultur der Aborigines."
Im Dickicht der Blue Mountains
Der Guide hat den Großteil seines Lebens in der Natur verbracht. Sein Vater war einer der ersten Nationalpark-Ranger der Region, Evan selbst ist seit Jahren auf den Spuren der Darug unterwegs, lesend, wandernd. Die Spiritualität seiner Vorfahren hat er ebenso studiert wie ihre Ernährung oder ihren Umgang mit der Natur. Die Heimat der Darug – eine von Australiens 250 Ureinwohner- Sprachgruppen – reichte von den Blue Mountains bis an die Ostküste, ehe weiße Siedler und deren Krankheiten sie innerhalb kurzer Zeit fast auslöschten.
Heute sind knapp drei Prozent der 23 Millionen Australier Aborigines, viele von ihnen nach Generationen des Nationalitäten- Mixes so hellhäutig wie Yanna Muru.
Muru will seinen Gästen nicht von den vergangenen zwei Jahrhunderten und den Problemen der Gegenwart erzählen, sondern von den vielen Jahrtausenden zuvor. "Australiens Ureinwohner sind die älteste überlebende Kultur der Welt, sie lassen sich mehr als 60.000 Jahre zurückverfolgen", sagt er, als die Gruppe unter einem Felsüberhang rastet. "Wer einen so langen Zeitraum überdauert, muss einiges richtig gemacht haben."
Yanna Muru zeigt auf das Dickicht: Früher legten seine Vorfahren auch an den Abhängen kleine Feuer, damit sich Pflanzen regenerieren können und um extremen Waldbränden vorzubeugen. "Heute ist es uns nicht mehr erlaubt", sagt er. Dann beschreibt er einen normalen Tag im Leben seiner Ahnen: Sonnengesang früh am Morgen, Jagd und Nahrungssuche, die erste gemeinsame Mahlzeit, Rast während der Mittagshitze. Er drückt eine Handfläche in den Sand. Rundherum malt er mit einem Stock Linien und Kreise, die Symbole für Reisen, Tiere und Bräuche.
"Happy walkabout"
"Alles wurde geteilt: Geschichten, Essen, Tänze", sagt er, "Großväter und Tanten halfen bei der Erziehung der Kinder." Hoch über den Wanderern landen kreischend zwei Rabenkakadus in einer Baumkrone. Die Gruppe geht weiter, bis Yanna Muru hinter einem kleinen Wasserfall stehen bleibt. Vor seinen Füßen ist ein lebensgroßes Wallaby ins flache Gestein geritzt, daneben Symbole der Fruchtbarkeit. Eine von mehr als 1000 heiligen Stätten der Ureinwohner in den Blue Mountains. Ein paar Dutzend sind ausgeschildert und zugänglich, manche versteckt wie diese, viele nur den Darug bekannt.
Yanna Muru zeigt auf das schmale Flusstal, das in der Mythologie ein Werk der Regenbogenschlange ist: Die Traumzeitfigur schlängelte sich durch die Berge und schuf so Täler und Landschaften. "Das alte Wissen ins heutige Leben zu integrieren, hält unsere Kultur lebendig", sagt der Guide und wünscht zum Abschied: "Happy walkabout." Dann dreht er sich um und folgt seinem Namen: Yanna Muru heißt in der Darug-Sprache "Geh deinen Weg".