Adrien Duvillard trägt am liebsten nichts auf dem Kopf. Das liegt da ran, dass der 37 Jahre alte Franzose als Skirennläufer jahrelang mit Helm fahren musste. Heute bürstet der Fahrtwind sein dunkles Haar straff nach hinten, denn Duvillard, Weltcupsieger 1993, heizt oben ohne die "Princesse noire" hinunter. Eine schwarze, die schwierigste Piste am Mont d'Arbois bei Megève. An den Füßen hat er ein Paar Testski des größten französischen Herstellers. Er will wissen, wie sie laufen und wie die Kanten bei hohem Tempo in den Kurven greifen. Duvillard ist von schmächtiger Statur, gegen die besten Abfahrer der Welt musste er seine fehlende Masse durch einen verwegenen Fahrstil wettmachen.
Die Freude am Tempo ist ihm bis heute geblieben. Als er mit der Gondel wieder nach oben fährt, leuchten die Augen in seinem schmalen Gesicht. Er grinst wie ein ausgelassener Junge und zeigt nach unten auf die Trasse mit den Seilbahnstützen, die sich schmal und steil den Berg hochzieht: "Hier bin ich schon als Kind mit Begeisterung runtergefahren."
Heute ist Adrien Duvillard Kurdirektor seines Heimatdorfs. Dieses liegt in Hochsavoyen, 35 Kilometer westlich von Chamonix. Unter den großen französischen Skiorten ist Megève so untypisch wie ein Abfahrer ohne Helm: Statt Appartement-Anlagen in die Berge zu klotzen, hat man in diesem Ort den dörflichen Charakter weiterentwickelt.
Tipps
Speisen, fliegen, ruhen
SAISON
Ski und Snowboard:
Mitte Dezember bis Mitte April. Während der französischen Ferien im Februar sind die Hotels meist ausgebucht, im April oft schlechte Schneeverhältnisse.
SKIGEBIET
325 Pistenkilometer aller Schwierigkeitsgrade, Skipass für 6 Tage 159 Euro; ab 6 Tagen ist ein Tag im Skigebiet von Chamonix enthalten.
ANREISE
Mit Flugzeug oder Bahn bis Genf, von dort Busverbindung nach Megève. Mit dem Auto über Genf, Autobahn A 40 bis Sallanches.
WOHNEN UND ESSEN
Au Coeur de Megève:
behagliches 3-Sterne-Hotel im alten Dorf; gemütliches Restaurant, DZ ab 143 Euro: 44 Rue Charles Feige in F-74120 Megève, Tel.: 0033/4/50 21 25 30, Fax: 50 91 91 27, www.hotel-megeve.com.
Chalet de l'Ancolie:
französische Küche zu fairen Preisen; einfache Zimmer, DZ ab 105 Euro, außerhalb gelegen: 1295 Route de Sallanches in F-74120 Megève, Tel.: 0033/4/50 21 21 37, Fax: 50 58 95 06, www. chalet-ancolie.com
MONTBLANC
Rundflüge
mit Propellermaschinen über Gletscher und Felszacken des Vallée Blanche. Start am Altiport Megève, 30 Minuten 87 Euro. Aérocime, Altiport, Megève, Tel.: 0033/4/ 50 21 03 21, www.aerocime.com
SPAR-TIPP
St. Nicolas de Véroce
gehört zum Skigebiet von Megève. Grandioser Blick auf den Montblanc, sehr ruhig, einfache Unterkünfte, z.B. für 21 Euro im Chalet Mont-Joye in F-74190 St. Nicolais de Véroce, Tel./Fax: 0033/4/ 50 93 20 22, www.chaletmontjoye.com. Fremdenverkehrsamt: Tel.: 0033/4/50 93 20 63, Fax: 50 93 24 33, www.st-nicolas.net
AUSKUNFT
Megève Tourisme, 70 Rue Monseigneur Conseil in F-74120 Megève, Tel.: 0033/4/50 21 27 28, Fax: 50 93 03 09, www.megeve.com
Eine Alternative zu St. Moritz für die gut betuchten Rothschilds
Zur Zeit des Ersten Weltkriegs schickte die Baronin Noémie de Rothschild ihren Privatskilehrer in die französischen Alpen, um für sie eine Alternative zu St. Moritz zu finden. Chamonix war ihr zu schattig, Val d'Isère zu eng von Bergen eingekesselt, doch Megève traf den Geschmack der Dame. Das Bauerndorf liegt auf 1100 Meter Meereshöhe wie in einem Amphitheater aus halbhohen Bergen. Die Flanken von Mont d'Arbois und Rochebrune sind bewaldet und vergleichsweise flach. Doch hinter diesem sanften Höhenzug erhebt sich eine Landschaft, die Baronin Rothschild nicht ergreifender hätte malen lassen können: das Montblanc-Massiv. 4807 Meter hoch ist es, das höchste der Alpen, es zeigt dramatische Gletscher und schroffe Flanken. Links des mächtigen Gipfels ragt die unwirklich spitze Felsnadel der Aiguille du Midi ins Nichts. Nur ein Tal trennt den Montblanc vom 1840 Meter hohen Mont d'Arbois. Wer hier im Bergrestaurant sitzt, ist dicht genug dran, um von der eisigen Faszination des Hochgebirges ergriffen zu werden, aber weit genug weg, um das Landschaftspanorama in seiner ganzen Größe erfassen zu können.
Am Fuss des Mont d'Arbois, oberhalb des Dorfs, ließ sich Madame Rothschild ein Chalet bauen. Der Architekt Henry-Jacques Le Même wählte den Stil einheimischer Bauernhäuser: eine breite, freundliche Front, dicke Balken und ein großes, schützendes Dach. Die Pariser Hautevolee folgte den Rothschilds nach Megève, und das Chalet blieb bis heute stilbildend für die Ferienhäuser der Großstädter. Große Panoramascheiben und ausladende Balkone gehören zur Grundausstattung, aber es finden sich auch Zweitwohnungen mit eigenem Hallenbad hinter bäuerlich anmutenden Balken. Der Stammgast von Megève steigt in seinem eigenen Haus ab. Es gibt hier nur 2000 Betten in Hotels, aber 32 000 in Zweitwohnungen.
Wie Adrien Duvillard ist auch Marc Veyrat eigen mit seiner Kopfbedeckung. Eigentlich sollte er eine weiße Kochmütze tragen, doch stattdessen hat der Küchenchef eines Spitzenlokals seinen schwarzen Schlapphut zum Markenzeichen stilisiert. Veyrat ist 56 Jahre alt, trägt ein Jeanshemd, schaut sehr selbstbewusst hinter einer dunkel getönten Brille hervor und sagt: "Ich bin zu hundert Prozent Autodidakt." Er stammt aus einem Bergdorf in Hochsavoyen, im Winter war er Skilehrer, im Sommer hütete er Schafe, dabei schützte der schwarze Filzhut mit der breiten Krempe vor Wind und Wetter.
Der Guide Michelin hat sein Restaurant in Megève mit drei Sternen ausgezeichnet. Es heißt nicht nur "La Ferme de mon Père", es gleicht auch einem Bauernhof. Von der Decke hängen geräucherte Schinken, die Ritzen zwischen den dicken Balken sind mit Moos ausgestopft. In das rohe Holz des Chalets sind Glasscheiben eingelassen, dahinter wird das Hofleben nach alter Väter Sitte inszeniert. In einer Kammer reifen der Reblochon und andere Käsesorten, auf dem Weg zum Klo kann man einer Kuh beim Fressen zuschauen, vom Tisch aus lassen sich Stallhasen und Hühner beobachten.
"Ich will den drei Sternen ihre sakrale Weihe nehmen", sagt Veyrat. Manchmal kommen Gäste im Skianzug zum Dejeuner, aber beim Preis hört der fromme Wunsch auf. Das große Menü kostet 385 Euro. Dafür gibt es klassische Zutaten in extravaganter Zubereitung: Gänsestopfleber als Joghurt, ein Hummerbonbon mit Verbene. Nach einem guten Dutzend Gängen wird zum Dessert eine Crème der Bergpflanze Reine des Prés gereicht, die Kreation anbei nennt sich Schokoladen-Delirium.
"Unsere Gäste reisen aus zwei Gründen nach Megève", sagt Kurdirektor Duvillard, "sie wollen Sport treiben und den Luxus genießen." Er achtet darauf, dass beides in der Balance bleibt. Das Skigebiet umfasst 325 Pistenkilometer. Darunter sind viele einfache Panorama-Abfahrten. Anfängern geht es hier besser als in vielen Skigebieten der Alpen. Da die Berge um Megève breite Rücken haben, sind die flachen Pisten nicht nur unten im Tal zu finden, sondern auch oben. Die anspruchsvollen Abfahrten reichen von langen, steilen Hängen zum Variantenfahren bis zur Weltcup-Rennstrecke. Seit den 30er Jahren gehören Skirennläufer aus Megève zu den schnellsten ihres Sports, die meisten Lorbeeren sammelte die Familie Duvillard. Adrien, der Vater des heutigen Kurdirektors, gewann so ziemlich alle Klassiker zwischen Kitzbühel und Kalifornien, sein Bruder Henri gehört zu den wenigen, die in allen alpinen Disziplinen gesiegt haben.
Gourmets lassen keine Mahlzeit aus
Die Stammgäste von Megève lassen es auf der Piste ruhiger angehen. Sie legen Wert auf ein ausgedehntes Mittagessen in einem der vielen Bergrestaurants. Zum Beispiel auf dem Mont d'Arbois. Dort gibt es gefüllten Schweinsfuß mit Linsensalat. Nebenan im Chalet "Idéal" wird eine rote Fahne gehisst, wenn die große Sonnenterrasse voll ist. Erstaunlicherweise gibt sich die Klientel der Chalet-Besitzer bei den Liftanlagen mit wenig Komfort zufrieden. Die modisch aktuellen Skianzüge der betuchten Gäste wollen einfach nicht zu den betagten Sesselliften passen.
Der Luxus von Megève findet sich im alten Dorfkern. Durch die gepflasterte Fußgängerzone zuckeln Pferdefuhrwerke, unter den Heizstrahlern der Cafés trinkt man am Nachmittag seine Schokolade. Eine Galerie mit kleinen Läden säumt den Eislaufplatz, und die Geschäfte in den Gassen bieten alles, was einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt: Käse und Wein, Patisserie in allen Formen und Geschmacksrichtungen. Beim Bäcker geht die Schlange bis aufs Trottoir, was beim Duft und der Vielfalt der Brotsorten verständlich ist.
Im Hotel Mont-blanc hat der Künstler Jean Cocteau schon Ferien gemacht und Wände bemalt, im Club "Les cinq Rues" spielte bereits die Jazzlegende Sidney Bechet. Bis heute treten hier jeden Abend Musiker auf. Das Dorf der Genießer ist mondän, aber nicht neureich. Ältere Frauen spazieren mit Schoßhündchen zwischen Rathaus und Bergbach, selbstverständlich gibt es hier Juweliere und Boutiquen mit standesgemäßem Sortiment. Neben der Kirche residiert Meister Allard. Dieser Schneider rühmt sich, in den 30er Jahren die Steghose für den Skilauf erfunden zu haben. Heute führt sein Sohn die Boutique und erklärt: "Mittlerweile fertigen wir diese Hosen nur noch für die Dame, und meist werden sie nicht auf der Piste getragen, sondern als modisches Beinkleid." Für den Herrn gibt's was von der Stange.
Da Megève nicht sehr hoch liegt, ist der Schnee im Frühjahr meist nicht mehr berauschend. Aber es gehört zum Charme dieses Ortes, dass man nicht versucht, die Skisaison künstlich zu verlängern. Kurdirektor Adrien Duvillard sieht das sehr entspannt: "Ostern sind unsere Gäste sowieso in der Karibik."