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Einsatz "unerlässlich" Bundestag zahlt Leiharbeitern Niedriglöhne

Die Parlamentsverwaltung beschäftigt dutzende Leiharbeiter für Schreibarbeiten. Der Stundenlohn von gerade 10,12 Euro erscheint nun auch manchen Abgeordneten zu niedrig.

"Gleicher Lohn für gleiche Arbeit", Schluss mit der "Zwei-Klassen-Gesellschaft im Betrieb" – mit solchen Slogans trommeln SPD-Politiker für eine Reform, die der Bundestag nach der Sommerpause beschließen will: Leiharbeiter sollen mehr Rechte bekommen. Haben sie neun Monaten in einem Betrieb gearbeitet, sollen sie genau soviel verdienen wie ihre regulären Kollegen.

Die Reform könnte Konsequenzen an unerwarteter Stelle haben: im Bundestag selbst. Er beschäftigt schon seit Jahren dutzende schlecht bezahlter Leiharbeiterinnen für Schreib- und Sekretariatsarbeiten – manchmal bis zu 18 Monate lang. Während sich die Parlamentarier wortreich für faire Löhne und sichere Jobs starkmachen, betreiben sie im eigenen Haus bis heute Lohndumping. Selbst für teure Füller und Stifte der Marke Montblanc standen den Abgeordneten jahrelang Gelder zur Verfügung – nicht aber für anständige Gehälter der Schreibkräfte.

Nur 1500 Euro brutto pro Monat

Es geht um Leute wie Sylvia Müller (Name geändert). Sie ist Leiharbeiterin und  dient dem Bundestag als Schreibkraft. Bis Mai verdiente sie magere 9,76 Euro die Stunde, seit Juni sind es 36 Cent mehr – so wie es der Tarifvertrag für Zeitarbeiter in Ostdeutschland verlangt. Pro Monat kommt sie so auf gerade mal 1500 Euro brutto. Wäre sie direkt beim Bundestag angestellt, müsste ihr das Parlament laut der Gewerkschaft Verdi mindestens 2060 Euro im Monat bezahlen. 

Die Hilfskräfte – es sind meist Frauen - bezieht der Bundestag zurzeit von einer kleinen Berliner Leiharbeitsfirma namens Dr. Stern Berlin GmbH. Die Firma hatte unter sechs Bewerbern das billigste Angebot abgegeben. Als einziges Kriterium für den Auftrag nannte die Parlamentsverwaltung im August 2015 ganz offiziell: "Niedrigster Preis".

Nach Recherchen des stern arbeiten zurzeit insgesamt 30 Leiharbeiter als Sekretariats- und Schreibkräfte für den Bundestag, deutlich mehr als noch vor ein paar Jahren. Sie tippen in den Sekretariaten der Parlamentsausschüsse Schreiben oder hüten auch mal ein Vorzimmer. Die Personalnot ist im Parlament gerade groß, denn zurzeit arbeiten sich gleich vier Untersuchungsausschüsse an aktuellen Skandalen ab. Leiharbeiterinnen der Dr. Stern Berlin GmbH machen sich darum jetzt auch im Ausschuss über die Datenschnüffler der NSA nützlich, wie in einem Gremium, das umstrittene Steuersparmodelle aufrollt.

Bundestagsverwaltung: Leihkräfte unerlässlich

Der geballte Aufklärungswille der Abgeordneten kam für die Beamten von Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) offenbar überraschend. Doch unter den Abgeordneten regt sich jetzt Protest gegen die Leiharbeitspraktiken. Warum stellen Lammerts Beamte die Schreibkräfte nicht befristet und nach dem regulären Tarif ein? Warum hat das Parlament keinen Pool mit Springerkräften? Sie habe "überhaupt kein Verständnis, dass dort Leiharbeitskräfte beschäftigt werden", sagt die Grünen-Arbeitsmarktpolitikerin Beate Müller-Gemmeke. Auch eine Sprecherin der Gewerkschaft Verdi rügt den Bundestag: "Die Beschäftigten sollten regulär beschäftigt und nach Tarifvertrag bezahlt werden", sagt sie.

Der Einsatz der Leihkräfte sei "unerlässlich", meint dagegen die Bundestagsverwaltung. Man müsse "möglichst rasch Arbeitsspitzen auffangen". Und der Bundestag habe bei einer Vergabe nach draußen "keine Möglichkeit, höhere Löhne durchzusetzen". Und ja, die Verwaltung habe auch das Präsidium des Bundestages vor der Vergabe des Leiharbeitsauftrags informiert – wie das die Regeln des Bundestages bei Aufträgen im Niedriglohnsektor vorsehen.

Bis vor einigen Jahren arbeitete der Bundestag sogar noch mit Firmen zusammen, die ihre Mitarbeiter nach den Billigtarifen einer umstrittenen christlichen Gewerkschaftsgemeinschaft bezahlten – die wurde 2010 vom Bundesarbeitsgericht für tarifunfähig erklärt.

Linke kritisiert "Lohndrücken"

Aber auch Stundenlöhne von 10,12 Euro für eine Schreibkraft erscheinen den Kritikern zu niedrig. "Das ist Lohndrücken", beklagt der Linken-Abgeordnete Klaus Ernst. Dass der Bundestag Leiharbeiter "zu Unterbietungslöhnen engagiert, finde ich unakzeptabel", sagt der Grünen-Abgeordnete Gerhard Schick. Er wirft der Parlamentsverwaltung Missmanagement vor: "Dass es mehr Untersuchungsausschüsse geben würde, war absehbar, darauf hätte man frühzeitig reagieren können", sagt er.

Schick sitzt in dem Untersuchungsausschuss zu den Steuersparmodellen und hat selbst erlebt, wie sehr Mitarbeiter fehlen. Auf Protokolle vorangegangener Zeugenvernehmungen warten die Abgeordneten manchmal wochenlang. Um geheim eingestufte Dokumente zu lesen, müssen sie und ihre Mitarbeiter in die Geheimschutzstelle gehen. Doch die hat zu wenig Leute und ist darum teils bereits am frühen Nachmittag geschlossen. Darüber haben sich kürzlich die Vorsitzenden aller vier Untersuchungsausschüsse per Brief bei Bundestagspräsident Lammert beschwert und vor einer "Zuspitzung der Situation" gewarnt – vom Linken Herbert Behrens bis zum CDU-Mann Clemens Binninger.

SPD hält sich beim Thema Leiharbeit im Bundestag vornehm zurück

Uneins sind die Fraktionen hingegen beim Thema Leiharbeit. Bereits im Jahr 2011 hatten die Grünen verlangt, auch alle Pförtner und Sicherheitsleute fest anzustellen. Das lehnte die damalige Koalition aus Union und FDP ab. Der externe Dienstleister spare dem Parlament Millionen Euro – etwa weil der anders als der Bundestag auch Mitarbeiter "ohne Schulabschluss" beschäftige.

Bereits damals gab es einzelne Sicherheitskräfte, die sich ihr vom Bundestag finanziertes Gehalt vom Jobcenter aufstocken lassen mussten. Was das Parlament so spart, finanziert der Staat dann zumindest teilweise auf anderem Weg.

Genauso tun es jetzt angeblich auch einige der Billigsekretärinnen – ihre niedrigen Löhne machen das im Einzelfall rasch möglich. Die Leiharbeitsfirma dementiert das nicht ganz eindeutig: Bei ihren Vollzeitkräften komme das "typischerweise" nicht vor, versichert die Geschäftsführerin.

Dennoch hält sich heute die SPD beim Thema Leiharbeit im Bundestag vornehm zurück. Ihre arbeitsmarktpolitische Sprecherin Katja Mast verweist auf das geplante Gesetz. Das werde helfen, um den "Grundsatz gleiches Geld für gleiche Arbeit" durchzusetzen. 

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