Zuerst mischt sich James Brown in "Ihre nächsten Reisemöglichkeiten" ein. Danach übertönt "Stop! In the Name of Love" die Bahnsteig-Ansage auf Gleis 13 des Nürnberger Hauptbahnhofs. Stefan hält sich mit seiner linken Hand am Sektglas fest, die Rechte umklammert die Brez'n. Der 30-Jährige will heute eine schnelle Nummer - beim Speeddating der deutschen Bahn, zwischen Nürnberg und München. Zusammen mit knapp sechzig weiteren Liebeshungrigen wuselt er auf dem Bahnsteig 13 zwischen Blitzlicht und Kameras. Sechs Fernseh-Teams, 27 Zeitungen und einige Radiosender frönen dem Voyeurismus. Liebe als Medienspektakel - nicht nur in der Welt der Promis, sondern auch im Pendlerwaggon des München-Nürnberg-Express'.
"Flirten bei 200 km/h" kratzt es aus den Boxen, während sich Marketingleiter von der DB Regio Bayern, Bernd Rosenbusch, die Hände am Glühwein wärmt. Die Idee, zwei reguläre Waggons des schnellsten Nahverkehrszuges in Deutschland vorübergehend in eine Kontaktbörse umzuwandeln, scheint zu fruchten. 348 Leute hatten sich beworben, 64 Teilnehmer wurden später ausgelost. Doch nicht alle Herzen lösen ihre Fahrkarte ein - zum Leidwesen der weiblichen Teilnehmer. Vier angemeldete Männer kneifen. Rosenbusch ist dennoch froh bei soviel Blitzlichtgewitter. Da scheinen selbst fehlende Kandidaten und Bahnstreiks kurz vergessen.
Kennenlernen unter erschwerten Bedingungen
"Packt eure besten Flirtsprüche der letzten zehn Jahre aus", feuert der Moderator gegen den beißenden Ostwind auf dem Bahnsteig. Stefan fummelt in der Zwischenzeit seine Single-Brosche an das Hemd. Sein Name und seine Teilnehmernummer sollen ja gut erkennbar sein. Er steht vor der Masse aus Datern und hungrigen Journalisten, die besonders nach hübschen Mädels und dicken Jungs gieren. Getreu dem Motto: Frosch und Prinzessin, Schöne und Biest. Stefan fällt aus dem Beuteschema. Schwarze Lederjacke, Brille und klassischer Kurzhaarschnitt sehen nicht nach einer Geschichte aus. Sein Schönheitsprogramm hatte er heute um zehn Minuten ausgedehnt. Extradusche, etwas Creme und ausgehfertig pellte er sich in die Klamotten. Vor zwei Wochen meldete er sich auf der Website der deutschen Bahn an - einfach so. Oder nicht einfach so, denn er sucht ja eine Freundin. Ein Mikro rauscht über seinen Kopf, dann zieht ein Pulk aus Kamera, Moderatorin, und Assistenten an ihm vorbei. So viel Medienrummel hatte der Münchener nicht erwartet. Seine einfache Rechnung "Flirten und Bahn fahren ist nicht schwer - beides zusammen also auch nicht" gerät ins Wanken. Wie jemanden kennen lernen, wenn die Kamera läuft und Journalisten lauschen?
Stefan, der als Angestellter bei einer Versicherung arbeitet, lockert sich noch mit etwas Sekt auf. Dann rauscht der Zug ein. Unverkennbar die Dating-Abteile: Rote Herzen an den Scheiben und Luftballons an der Gepäckablage. Ein Wust aus Medien und Teilnehmern drängt in die Waggons. Die linken Plätze nehmen die 30- bis 40-Jährigen in Beschlag, die rechten die 18-bis 30-Jährigen. Teilnehmer zwischen 28 und 30 durften frei wählen, in welche Gruppe sie wollten. Stefan setzt sich an einen Vierertisch der jüngeren Dater. Ihm gegenüber seine erste Bekanntschaft: rotes T-Shirt, dunkle Haare und bewaffnet mit einer Kandidaten-Checkliste. Dort trägt sie die Nummern ein und ob ihr der Typ gefallen hat. Nach jedem Flirt bewerten sich die Teilnehmer und entscheiden mit einem Kreuzchen, ob sie ihr Gegenüber wieder sehen wollen. Bei deckender Sympathie gibt es die Kontaktdaten.
Es geht los, doch bevor Stefan seinen ersten Satz spricht, muss er die Werbung für das Bayernticket über sich ergehen lassen. Jetzt aber! Beruf und Wohnort sind schon abgeklappert bis sein Gegenüber versucht Sekt zu ordern. "Ich will Sekt. Ey, ich sitz jetzt schon seit drei Minuten hier und hab noch immer nichts!" Das erste Glas hatte sie schon vor der Abfahrt in sich hineingeschüttet.
"Wie oft onanierst du am Tag?"
Stefan holt zu den Sternzeichen aus, sie kontert mit Sektdurst. Jetzt kommen die Journalisten dran, "Könnt ihr mir ein Glas besorgen?" schmettert sie der Dame mit Schreibblock wie selbstverständlich entgegen. Verhaltenes Grinsen huscht über das Gesicht der Redakteurin. Stefan versucht es mit Kino, doch dann löst der Moderator das Minuten-Date auf. Stefan sagt "Ciao" und rückt einen Platz weiter. Seine erste Bekanntschaft macht ihr Kennenlern-Kreuzchen auf NEIN. Er auf JA.
Zweiter Versuch, die Zeit läuft. Wieder bleibt Stefans erster Satz unvollendet. Eine Journalistin beugt sich über die Sitze. "Entschuldigung, darf ich dir kurz eine Frage stellen?" sagt die Schreiberin. Stefan lächelt und bejaht. "Wie oft onanierst du am Tag?" überfährt sie den Versicherungsangestellten. "Äh, keine Ahnung". Auf den Block wird gekritzelt - keine Ahnung. Zweite Frage: " Was für ein Auto fährst du?" Stefan will antworten, die Journalistin dreht sich weg. Das Date ist gelaufen - Zwei-Null für das Singledasein. Der Zug zuckelt an Allersberg und Ingoldstadt vorbei.
20.52 Uhr, Halbzeit, Ankunft in München: Die ersten Journalisten verabschieden sich - genug Geschichten für die Tagespresse. Stefan springt aus dem Zug, grinst in die Kameras und schnappt frische Luft. In knapp 20 Minuten fährt der Regionalexpress zurück. Zeit genug, um Bilanz zu ziehen: Vier Kreuze hat er auf JA gemacht. Auf der Rückfahrt werden sicher noch einige dazu kommen. Und danach geht es zur Aftershowparty. Mal sehen, ob er den letzten Zug nimmt oder vielleicht doch in Nürnberg bleibt.
Nett ist nicht genug
Auf dem Münchener Bahnsteig mischen sich die Ü-30 Herren unter die jüngeren Frauen, missmutig beäugt von den Ü-30 Damen. Der Moderator schaltet sein Mikro aus und erkundigt sich bei den Frauen, wie denn die Herren so sind. Ganz nett sollen sie sein. Aber NETT wohnt ja bekanntlich in der "Scheißestraße" - zumindest weiß das der Moderator.
Dann pfeift es zur Rückfahrt.
Stefan steigt ein. Müht sich weiter an Ulrike, Jenny und Saskia. Das gleiche Spiel, nur diesmal sitzt er entgegen der Fahrtrichtung bis er um 22.41 Uhr in Nürnberg ankommt. Aussteigen, weiter graben. Im blauen Adler, einer Bar im Nürnberger Hauptbahnhof, lädt die Bahn zur After-Party. Die Blitzlichter erlöschen, die Mikros werden eingepackt. Stefan tauscht Handynummern aus. Dem Zufall soll hier nichts überlassen werden. Bis um halb drei hält er durch.
"Ihre nächsten Reisemöglichkeiten" beginnen für ihn erst um vier - dann geht sein Zug zurück nach München.
Im Gepäck verstaut er einen Tanzkurs mit einer Daterin, einige Telefonnummern und das Rückfahrtticket.