"Driving Home for Christmas" Einmal und nie wieder: Wie ich 500 Kilometer mit Regionalzügen in die Heimat fuhr

Reisende am Hamburger Hauptbahnhof
Unsere Autorin startete die (nicht ganz freiwillige) Reise um zehn Uhr in Hamburg, acht Stunden später war sie zuhause, im Norden von Bayern angekommen
© Martin Wagner / Imago Images
Unsere Autorin weigerte sich, für die Fahrt in die Heimat einen teuren ICE zu buchen und tuckerte stattdessen mit den Regionalbahnen durchs halbe Land. Die weihnachtliche Vorfreude stieg nicht mit ein. 

Ich würde gerne jemand anderem die Schuld an meinem Dilemma geben. Und ich habe es versucht. Immerhin war es mein Freund, der vorschlug, den Wecker eine halbe Stunde später zu stellen (den Wecker, den wir dann überhörten). Er war es, der viel zu spät aus dem Haus gehen wollte, sodass wir die U-Bahn verpassten. Und als wir trotz aller Widrigkeiten doch noch vor dem Zug standen – fuhr er vor unserer Nase davon. 

Der Reisetag beginnt mit einer doppelten Panne

Man ahnt es vielleicht: Ich habe verschlafen. Der Flixbus, der mich in die Heimat bringen sollte, war bereits weg, als ich panisch die Augen aufschlug. Wegen der astronomisch hohen ICE-Preise beschloss ich als Inhaberin des Deutschlandtickets, stattdessen auf die Regionalzüge umzusteigen. Mehr als 500 Kilometer mit dem Deutschlandticket durchs Land. Einen Tag vor Weihnachten. Ich bereue die Idee schon, als ich das Haus verlasse – und die erste Verbindung direkt verpasse. Ich betone nochmal: Daran war mein Freund schuld. Wir frühstücken bei Subway. "I am in misery", singt Adam Levine über die Lautsprecher. Eine Taube tanzt um unseren Tisch und sammelt die herunterfallenden Sonnenblumenkerne auf.

Als der Zug – RE 3 nach Hannover – endlich fährt, ist die Bahn vollgestopft von Menschen, Fahrrädern und Koffern. Wir ergattern einen Sitzplatz neben den WCs. In dem Moment wünsche ich mir dann doch eine FFP2-Maske, wie sie einige andere Gäste auf der Nase sitzen haben. Die Fahrt ist alkoholfrei, betont die Schaffnerin jedes Mal, wenn neue Passagiere einsteigen. Gegenüber von mir öffnet ein tätowierter, schwarzgekleideter Mann trotzdem eine Dose Jack Daniels. Vielleicht hält man das Ganze nur so aus.

Ich möchte auch weinen

Die Reisenden drängen sich auf dem Bahnsteig in Hannover. Unsere Wege trennen sich hier; mein Freund fährt in Richtung NRW, ich weiter nach Süden. Die Regionalbahn nach Göttingen steht schon bereit. Ohne zu zögern schnappe ich mir wieder den Sitz neben dem WC – eine kluge Entscheidung, denn wenig später ist das Abteil wieder knallvoll. "Mit Kindern wäre das noch viel schlimmer", sagt eine junge Frau im Gespräch mit einer älteren Dame. Kleine Kinder sind anscheinend nicht im Zug, dafür jede Menge Teenager, die laut TikTok-Videos auf ihren Handys schauen. "Wenn sich zufällig ein Polizist im Zug befindet, möge er sich in Wagen Nummer fünf bewegen", sagt der Schaffner durch. Ansonsten läuft es bisher überraschend glatt.

Metronom im Hauptbahnhof Hannover
Die ersten beiden Fahrten mit den Zügen des Metronom verlaufen überraschend problemlos
© Bernd Günther / Imago Images

Im Zug nach Kassel gibt es viele kleine Kinder. Eines davon, Emil, in einen braunen Schneeanzug gepackt und mit einer Zipfelmütze auf dem Kopf, weint bitterlich, weil seine Mutter sich zu fremden Menschen setzen möchte. "Ich mag die aber nicht", stellt der Junge klar. Die Mutter kennt kein Erbarmen. Fast hätte ich mit ihm geweint. Wir fahren vorbei an Dörfern mit klangvollen Namen wie Witzenhausen. Lustig ist der Halt dort allerdings nicht. Wir bleiben 15 Minuten stehen. 

Wegen der Sturmschäden seien die Schienen aktuell nur eingleisig befahrbar, informiert der Schaffner. Das führt dazu, dass wir von nun an bei jedem Halt mindestens eine Viertelstunde warten müssen. Der Anschluss in Kassel ist längst weg. Neben mit sitzt ein Mädel, das sich lautstark – und mit einem "Digga" nach jedem zweiten Wort – darüber beschwert, dass sie ihren Piercing-Termin verpasst. Ich hoffe für sie, dass ihr Piercer, anders als mein Heimatort, nicht noch über 200 Kilometer entfernt ist. 

Vorfreude auf Weihnachten ist weit entfernt

Auf nach Fulda, endlich ist der Zug leerer. Die Mitreisenden müde und gereizt. Das Leid verbindet zwar, doch wenn es darum geht, wer als Erstes in den Zug einsteigt und sich einen der Sitzplätze ergattert, werden doch alle wieder zu Einzelkämpfern. Auch mir ist inzwischen alles zu viel. Jedes Husten, jeder Handyklingelton bringt mich innerlich zum Ausrasten. Die vorweihnachtliche Besinnlichkeit scheint Lichtjahre von mir entfernt. Draußen ist es stockfinster. Nicht, dass es hier an der nordhessischen Bahnlinie bei Tageslicht so viel zu Sehen gebe. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und kann tatsächlich eine halbe Stunde Schlafen. Der Zug kommt nur acht Minuten zu spät und lässt mir genug Zeit, um meinem knurrenden Magen in einer Drogerie wenigsten einen kleinen Snack zu holen. 

Die nächste Regionalbahn steht schon bereit. Die Fahrgäste reden – pardon, babbeln – bereits im vertrauten hessischen Dialekt. Heimat ist zum Greifen nah. Noch mehr klangvolle Dörfer ziehen vorbei, immerhin kommen mir die Namen aber langsam bekannt vor. Nach acht Stunden bin ich endlich am Ziel angelangt, im Norden von Bayern, in Aschaffenburg steige ich aus dem Zug. Die restlichen Kilometer werden im Auto meiner Mutter zurückgelegt. Der Ärger ist sofort verfolgen. Ich freue mich plötzlich sehr auf die vertraute Wärme von Zuhause. Und auf Weihnachten, auf Weihnachten freue ich mich am meisten.

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