Warum berichten alle Journalisten eigentlich immer von der Pressetribüne aus, wo sich doch Atmosphäre und Dramaturgie eines Fußballspiels auch sehr gut aus der Fan-Kurve einfangen lassen? Ich war am letzten Freitag in Frankfurt beim Spiel gegen Arminia Bielefeld (2:1). Ich stand am Rande der Westkurve, also dort, wo tausende Eintracht-Fans bei jedem Heimspiel Fahnen schwenken, "Bengalos" zünden und Lieder singen. An- und Abreise wird übrigens mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestritten, was in Frankfurt schon mal bedeuten kann, dass man erst anderthalb Stunden nach Abpfiff vom Fleck kommt.
Zum Autor
Oliver Fritsch (35) ist freier Journalist und Gründer der drei Online-Plattformen indirekter-freistoss.de, der täglichen Fußball-Presseschau, hartplatzhelden.de, der Video-Community für Amateurfußballer und direkter-freistoss.de, einem Zirkel ausgewählter Fußball-Blogger. Außerdem ist er beim mittelhessischen Kreisligisten RSV Büblingshausen als Spielertrainer und Libero aktiv, aber nicht übergewichtig.
Wirklich beeindruckend, der "Support" der Eintracht-Fans! Erstens die Lautstärke und zweitens die zweistündige Ausdauer, mit denen die Hessen die "Eintracht vom Main", "schwarz (!) und weiß wie Schnee", immer siegen, den "U-Uefa-Cup" holen und "Deutscher Meister" werden lassen, Schmähungen auf die Gäste anstimmen und ihren "Maddin", den neuen tschechischen Torjäger Fenin, hochleben lassen. Auch wenn selbst einheimische Stammgäste die Chöre nicht immer Wort für Wort entschlüsseln ("isch versteh die manschma so gut wie unsern Schinees uff de Awweit") - es war wie immer eine richtige Gaudi-Stimmung unter den mehr als 40.000 Besuchern, und das bei einem Freitagsspiel im Februar gegen eine unglamouröse Mannschaft ohne Stars.
Doch die Fans nahmen nicht immer unmittelbar Bezug auf das Spielgeschehen. Schon in der ersten Halbzeit wollten alle "hüpfen, hüpfen, hüpfen!" (was sie auch taten), während ihr Team eine brenzlige Situation vor dem eigenen Tor zu überstehen hatte. Auch die vielen Eckbälle der, zugegeben, an und für sich harmlosen Gegner waren für die Eintrachtler kein Grund zum Luftanhalten. Und dass sich das zunächst einseitige Spiel bei einer 2:0-Führung ab Mitte der zweiten Halbzeit wendete, haben die Fans verschlafen, besser: "versungen". Während sie sich in einem minutenlangen Dialog mit ihren Brüdern aus der Ostkurve verloren, wurden die Bielefelder Spieler stürmischer und näherten sich hier und da dem Eintracht-Keeper Nikolov. Das Anschlusstor fiel mitten hinein in ein langgezogenes "Eiiiintracht Frankfurt"; in dieser Phase wäre der Elf der Gastgeber jedoch mehr geholfen gewesen, wenn die Fans die gewonnen Zweikämpfe ihres Abwehrspielers Spycher oder die siegreichen Kopfballduelle von Kyrgiakos und dem vorzüglichen Chris bejubelt hätten - also die Defensivqualitäten honoriert. Fans, zugehört! Ihr wollt doch immer, dass Euch ein Einfluss auf das Spiel zugeschrieben wird. Dieses Gegentor könntet Ihr durch Eure undifferenzierte Unterstützung mitverschuldet haben!
Es gibt keine richtige Art, ein Fußballspiel zu schauen
Der vielgereiste Publizist Christoph Biermann hat einmal den Zuschauern des FC Liverpool seine höchste Anerkennung gezollt, weil sie das Spiel keine Sekunde aus den Augen ließen; Biermann legt andere Maßstäbe als Lautstärke an: "Die Zweiundvierzigtausend reagieren sofort und auf die gleiche Weise, so dass oft ein seltsamer Laut zwischen Seufzen und Stöhnen aus einem Mund zu kommen scheint. Solch kollektive Konzentration und Kennerschaft ist beeindruckender als es jeder noch so hohe Lärmpegel hätte sein können und sagt mehr über die Bedeutung, die Fußball in diesem Stadion zugebilligt wird als jedes noch so inbrünstige Intonieren der Vereinshymne." Biermann nennt die Liverpooler "das beste Publikum der Welt".
In Frankfurt hingegen werden die Fans von ein paar "Ultra"-Jungs mit Megaphonen dirigiert, die mit dem Rücken zum Feld stehen. Für sie ist nicht das Spiel das wichtigste beim Stadionbesuch, sondern das befriedigende Machtgefühl, eine fünfstellige Zahl von Menschen zu befehligen. Also, recht verstanden: Es gibt keine richtige und es gibt keine falsche Art, ein Fußballspiel zu schauen, keine gute und keine unrechte. Meinetwegen können Fans, wie es so schön heißt, sich selbst feiern.
Aber ich kenne auch noch das Frankfurter Haupttribünenpublikum aus den 90ern, die den Samtpfotenfußball des Spielmacher-Genies Uwe Bein mit zartem Applaus und Zungeschnalzen goutierten. Diese Form der Aneignung eines Fußballspiels kam mir kundiger, expertenhafter und echter vor. Die der Westkurve der Gegenwart hat was von Karneval.