Dieser Text erschien ursprünglich im gedruckten stern, Ausgabe 28 vom 5. Juli. Zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte sich Joachim Löw noch nicht zu seiner Zukunft als Bundestrainer geäußert.
Es gibt, Herr Streich, einen bemerkenswerten Satz von Ihnen: "Ich lüge nicht."
Das habe ich noch nie gesagt. Dieser Satz ist mir unterstellt worden. Ich weiß nicht, ob es schon jemals einen Menschen gegeben hat, der nicht gelogen hat. Auch ich, klar, habe schon mal gelogen.
Aber jetzt mal ganz ehrlich: Hat bei Ihnen in den vergangenen Tagen jemand vom DFB angerufen und gesagt: "Herr Streich! Christian! Kommen Sie! Retten Sie uns! Befreien Sie uns von dieser WM-Blamage!"
Nein. Erstens rette ich niemanden, und zweitens hat die Nationalmannschaft mit Jogi Löw einen außergewöhnlich guten, einen super Trainer.
Das sagen Sie nach dieser peinlichen WM-Pleite!
Selbstverständlich. Löw versteht sein Handwerk, sonst wäre er 2014 nicht Weltmeister geworden, sonst hätte er in den vergangenen Jahren die deutschen Fußball-Fans mit seinen wunderbaren Spielen nicht so erfreuen können. Es wäre abwegig, jetzt einen anderen Trainer zu suchen!
Das sehe ich nicht so. Löw kann doch jetzt gar nicht mehr weiter machen. Er steht mit dem Rücken zur Wand – und ist entzaubert.
Nein, überhaupt nicht. Sie dramatisieren mir zu sehr.
Wäre Löw 2014 nach dem Weltmeistertitel zurückgetreten, nach diesem historischen Sieg über Brasilien – er wäre in die Geschichte des Fußballs eigegangen als der Erneuerer, der große Held. Er wäre für immer als Strahlemann dagestanden. Aber jetzt….
… scheidet er aus. Das ist Fußball. Sieg, Niederlage, Jubel, Trauer, Zufall, alles ist so eng beieinander. Italien ging nach dem WM-Titel fast unter, Spanien hatte nach seinem WM-Sieg plötzlich fundamentale Probleme. Dieses Ungewisse macht Fußball so toll. Darin liegt die Faszination dieses Sports. Es gibt kein Naturrecht, dass Deutschland immer ins Endspiel kommt.
Das mögen Sie so gelassen sehen, aber für Löw ist das Ganze doch unfassbar tragisch. Hart gesagt: Er ist zertrümmert.
Er ist überhaupt nicht zertrümmert. Ich habe mit dieser Sichtweise Probleme. Man redet von Pleite. Unsinn. Eine Niederlage ist eine Niederlage, mehr nicht. Für mich ist Pleite ein Geschäftszusammenbruch, der Untergang eines Betriebs. Wenn mein Vater, er war Metzgermeister, früher sagte: "Der ist pleitegangen", dann war das eine Tragödie, etwas ganz Schlimmes. Löw wurde 2014 Weltmeister, es wäre einfach für ihn gewesen damals als Held abzutreten.
Nur Wenige schaffen es, im Zenit abzutreten.
Ja, weil da natürlich auch dieser Ehrgeiz ist. Und der Erfolg ist süß.
Süß? Ein drolliges Wort.
Der Erfolg ist sehr süß sogar. Und da ist auch diese Sucht, Sucht nach Siegen, das ist bei uns Trainern immer ein schmaler Grat, weil wir das alles so intensiv machen, dass es so energetisch aufgeladen ist – wie es das im alltäglichen Leben nicht gibt. Und bei einer Weltmeisterschaft ist das nochmals hochkonzentrierter.
Was meinen Sie mit energetisch aufgeladen? Es ist doch nur ein Spiel.
Das stimmt, und es stimmt nicht. Spiel ist auch Risiko. Und es wird hochenergetisch, weil Millionen, bei der WM sogar Milliarden Menschen zuschauen. Mit all ihren Erwartungen, Hoffnungen, Ängsten, Projektionen. Wenn sich fürs Steinewerfen die ganze Welt interessieren würde – dann wäre eben Steinewerfen hochenergetisch. Denn dann sind da 50.000 Fans im Stadion und vorm Fernseher zig-Millionen Leute. Und dann geht es darum, dass der Stein genau da landen muss, und der Beste wird bejubelt, aber der andere, der nur ein paar Zentimeter vorbeiwirft – für den ist es dann "Schmach", "Pleite", "Untergang". Innerhalb von kürzester Zeit können Menschen, die Außergewöhnliches geschafft haben, ganz klein gemacht werden. Hosianna oder kreuziget ihn.
Ein Satz des TV-Kommentators Béla Réthy hat sich in meinem Kopf festgehakt, er sagte ihn bei dem Spiel Deutschland gegen Südkorea, das Deutschland verlor: "Was Sie hier sehen, ist keine Zeitlupe. Es sind Bilder in Echtzeit."
Ja, ja, das sagt der Béla Réthy. Weil die Spieler nicht diese Energie drin hatten. Sie müssen sich aber auch die Geschichten der einzelnen Spieler anschauen. Toni Kroos lebt ja wie ein Mönch, der lebt nur für den Fußball. Er gibt alles. Er hat seit Jahren keinen Urlaub mehr, seit Jahren gewinnt er die Champions League, die spanische Meisterschaft, seit Jahren ist er bei all den vielen Turnieren und Spielen dabei. Haben Sie sein Gesicht gesehen nach dem Spiel? Diese Augenringe, wie ausgepowert er war. Was Toni die letzten Jahre geleistet hat, das ist abartig.
Vielleicht machen die ganz Großen auch Fehler, vielleicht hätte ein ganz großer Trainer erkannt, dass manche seiner älteren WM-Heroen von 2014 jenseits ihrer allerbesten Tage sind. Vielleicht hätte er sie durch jüngere, erfolgshungrigere, unverbrauchtere Spieler ersetzt?
Im Nachhinein ist es leicht, alles in Frage zu stellen. Aber vorher? Da kannst du nicht, wenn du Weltmeister bist, einfach andere Spieler holen und sagen: Ach, jetzt bleibt Ihr sechs, sieben WM-Sieger draußen, ihr Khediras, Kroos', Müllers und so. Jetzt lassen wir mal die anderen kicken.
Warum denn nicht? Wäre doch eine klasse Idee.
Nein! Der Bundestrainer kann es deshalb nicht machen, weil er im Kopf hat: Wenn es schief geht, was machen die dann mit mir? Dann, dann…
… dann zerreißen die mich! Ist da diese Angst?
Ja. Dann wird er zerrissen. So ist es.
Was ich interessant finde: Der Marktwert der deutschen Spieler bei dieser WM lag im Schnitt bei 35 Millionen, bei den Mexikanern gegen die Deutschland sein Auftaktspiel mit 2:1 verlor, bei gerade mal 6, 5 Millionen Euro.
Das ist das Schöne an diesem Spiel. Niemand weiß, wie es ausgeht. Das Spiel ist natürlich Tragödie. Früher sind die Leute ins Theater – es gibt immer noch welche, die das tun –, aber heute erlebt man dieses Theater auf dem Kickplatz. Innerhalb kürzester Zeit, ganz komprimiert, erfährt man da das Leben, wie es ist: Aufstieg und Fall von Menschen, Verlieren oder Gewinnen, Freude und Frust, man kann gemeinsam schreien, zusammen trauern, genießt Schönes, ärgert sich über Unschönes.
Nochmals: Glauben Sie tatsächlich, dass Jogi Löw weitermachen kann?
Ja. Es gibt alle vier Jahre eine Weltmeisterschaft, und ein WM-Sieg ist der höchste Punkt. Es gibt davor einen Aufstieg, und danach gibt es einen Abstieg.
"What goes up, must come down, spinnin' wheel got to turn 'round", heißt es in einem Song von "Blood, Sweat and Tears". Was hochfliegt, kommt auch wieder runter – sehen Sie das so?
Genau. Jetzt wird es spannend für Jogi Löw. Wenn du abgestiegen bist, kannst du Stolz und Kraft daraus ziehen, wenn du diesen Moment der sogenannten Schmach bewältigst – daraus kann große Energie erwachsen. An dem Punkt ist jetzt Löw. Im Fußball fallen wir doch die ganze Zeit hin. Jeder Fußballer, der 20 Jahre alt ist, ist schon 10.000-mal gestürzt und, wenn er ein richtiger Kicker ist, ist er jedes Mal wieder aufgestanden.
Nach Stürzen, also Niederlagen, sind Sie oft tagelang nicht ansprechbar.
Manchmal zwei, manchmal drei Tage, manchmal nur einen Tag lang nicht. Ich will gewinnen. Nach Niederlagen will ich das nächste Spiel besser machen, Fehler korrigieren. Das ist die Verpflichtung, die mich antreibt. Der Druck. Hier schauen uns 24.000 Menschen zu, ich will sie mit Siegen glücklich machen. Wenn wir gewinnen, geht es mir kurzfristig besser. Denn ich habe dann das Gefühl, diese Angst bewältigt zu haben.
Welche Angst?
Die Angst vor der Niederlage. Die ist riesengroß. Wir alle haben diese Angst, der eine mehr, der andere weniger – man redet nur nicht darüber. Wenn man diese Angst überwunden und all diese Widerstände beseitigt hat, ich benutz' jetzt wieder das für Sie merkwürdig klingende Wort: Dann ist das süß.
Ein komischer Beruf – dieses Trainerdasein.
Das stimmt. In welchem Beruf wird man schon bei seiner Arbeit – dem Spiel – ständig gefilmt, ständig beobachtet, wie man sich verhält. Und dann wird man bewertet, beurteilt, verurteilt. Jeder glaubt dir sagen zu können, wie du die Mannschaft hättest richtig aufstellen können.
Kurz bevor sie sich in ihre Pariser Wohnung zurückzog, komplett aus der Öffentlichkeit verschwand, sagte die Filmschauspielerin Marlene Dietrich: "Man hat mich zu Tode fotografiert".
So gesehen bin ich auch schon längst tot. Deswegen habe ich auch gar keine Lust mehr, Interviews zu machen. Mit Ihnen jetzt, das ist die Ausnahme. Aber alles ist schon gesagt. Ich hab nichts mehr. Verstehen Sie?

Nein.
Ich hab alles schon gschwätzt. Alles isch gsait.
Der 29. Dezember 2011, der Tag an dem Sie den Trainerjob beim SC Freiburg annahmen – ist das ein Glückstag für Sie, oder verfluchen Sie ihn manchmal?
Das ist kein Glückstag. Ich wusste, es wird nun unausweichlich in eine bestimmte Richtung abgehen. Ich habe gewusst, ich werde zu Tode fotografiert. Ich habe gewusst, dass es nicht gut aussieht, wenn ich am Spielfeldrand kämpfe, mache und tu, weil ich emotional so sehr nach außen gerichtet bin, manchmal wild wirke, unkontrolliert. Das habe ich gewusst. Das habe ich gewusst. Und hab's trotzdem getan.
Staunen Sie über sich, wenn Sie am Spielfeldrand rumagieren.
Nein.
Manchmal hat man bei Ihnen das Gefühl, Sie sind bloß noch einen Wimperschlag vom Wahnsinn entfernt, wenn Sie da losteufeln, losrasen.
Ich teufele nicht los, und ich rase auch gar nicht so oft los. Wenn ich es dann doch tue, muss ich damit leben, dass die Kameras genau diese eine kurze Szene einfangen.
Man sieht, wie Sie die Zähne fletschen, weißglühend sind vor Zorn.
Das ist nicht schön. So will man sich nicht sehen. Aber die warten auf so eine Szene. Ich stecke da in einer Schublade. Ich bin in einem Klischee gefangen.
Beim Spiel neulich gegen Schalke hatte man das Gefühl, Sie wollten dem Schiedsrichter an den Kragen gehen, Sie stürmten los, drei Leute hielten Sie gerade noch mit aller Kraft zurück.
Schalke war eine Ausnahmesituation. Ich schäme mich dafür, wie man sich für etwas nur schämen kann.
Wie ist das für Sie, wenn Sie diese Bilder abends in der Sportschau anschauen – vielleicht gemeinsam mit Ihrem Sohn?
Ich schau das nicht an, ich will es nicht sehen, ich ertrage es nicht. Aber der Vorgang auf Schalke hat eine Vorgeschichte. Kurz vorher, in Stuttgart, hat der Schiedsrichter, der auch auf Schalke pfiff, einen Spieler von uns vom Platz geschickt, völlig unberechtigt.

Natürlich.
Ja, das sah man ja eindeutig – bis auf den Schiedsrichter – im Videobeweis. Wir mussten dann im Abstiegskampf 80 Minuten lang mit zehn Mann spielen, wir waren damit sozusagen ans Messer geliefert, wir verloren 3:0. Die Rote Karte war, wie gesagt, unberechtigt, und der Schiedsrichter hat sich bei mir entschuldigt. Und jetzt, auf Schalke, gibt er gegen uns einen zweifelhaften Elfmeter, dann, drei Minuten später stellt er unseren Stürmer Nils Petersen mit gelbrot vom Platz – das hätte ich nicht für möglich gehalten. Der Schiedsrichter hätte doch vorher zu uns kommen und sagen können, wenn der Nils so weitermacht und Sie nicht aufhören, so ins Spiel reinzurufen, müssen wir Sie auf die Tribüne schicken, und der Nils kriegt Rot! Stattdessen macht er ratzfatz puff, puff, puff! Du fühlst dich da so hilflos. Du hast im Kopf: Abstiegskampf! Nächste Woche Spiel gegen Wolfsburg! Ohne Nils. Wir sind schon wieder ans Messer geliefert! Ich fühlte uns verkauft. Ohnmächtig. Und dann wurde es relativ wild.
So wie Sie sich bei diesen Spielen reinhängen: Sie verbrennen.
Ja, natürlich verbrenne ich. Aber wir alle brennen bei diesem Job aus. Vielleicht haut's mich mal von der Bank. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Job noch machen möchte. Und dann mach ich doch weiter. Obwohl es mich enorm viel Kraft kostet, mentale Kraft, körperliche Kraft, psychische Kraft. Wenn ich heimkomme, fehlt mir diese Kraft. Du musst schauen, dass du nicht zu sehr deformiert wirst. Ich habe früher gerne gekocht, das habe ich inzwischen verlernt.
Warum machen Sie dann weiter?
Weil ich es so gerne mache. Weil ich zum Beispiel nachher den Nils treffe oder den Karim Guédé. Weil wir hier im Verein die ganze Welt zu uns holen können. Wenn ich früher mit Admir Mehmedi geredet habe, der jetzt bei Wolfsburg spielt, oder jetzt mit Amir Abrashi rede, weiß ich anschließend mehr über Albanien oder Mazedonien, und er weiß mehr von mir. Ich könnte Ihnen hunderte von Geschichten erzählen – von Spielern, die Flüchtlinge waren, keiner hat auf sie gewartet, aber manche von ihnen sind Profis geworden. Ihre Geschichten sind das Schönste im Fußball.
Fußball, so heißt es ja oft, habe eine gesellschaftliche Vorbildfunktion. Bayern München wäre ohne seine Ausländer wahrscheinlich ein mittelmäßiger Rumpelverein. Aber was im Fußball funktioniert, findet keine Entsprechung in der Politik, im Gegenteil: Die Grenzen werden hochgezogen.
Das stimmt. Ich verstehe auch nicht, warum das nicht betont wird, dass der Fremde dein Freund und eine Bereicherung für uns sein kann. Es ist ein menschliches Drama, was im Mittelmeer geschieht. Aber da ist natürlich die Angst. Sie bestimmt alles. Sie wird geschürt. Als Rettung von dieser Angst kommt dann die Abschottung.
Ihre Pressekonferenzen nach Spielen sind legendär. Sie äußern sich da zu Gott und der Welt. Wenn Streich spricht, notiert das Fußballfachmagazin "Elf Freunde", "können daraus unversehens Grundsatzreden erwachsen und bewegende humanistische Manifeste".
Ich sag halt manchmal, was ich gut oder schlecht finde. Ich überlege mir vorher nichts. Immer wenn ich im Studium zu lange überlegt habe, dann habe ich nachher nicht mehr richtig reden können. Ich bin an der Geschichte interessiert, am Zustand der Welt.
Und so klagen Sie beispielsweise, dass "der Mammon", uns alle verschlingt.
Klar, wenn wir nicht aufpassen. Meine Oma hat immer gesagt und sich dabei auf die Bibel bezogen, "der Mammon ist der Teufel, wenn man ihn falsch einsetzt". Der macht dich natürlich kaputt, der zerstört deinen Kopf. Ich muss auch kämpfen, täglich, dass ich mich nicht korrumpieren lasse von Dingen, die nicht gut für mich sind.
Es ist putzig, was Sie da sagen: Sie sind in einem Gewerbe, bei dem der Mammon, und nichts als der Mammon regiert.
Ja. Ich versuche deshalb, um relativ unbeschadet zu überleben, eine Distanz zu bewahren. Ich mache dennoch bei dem Spiel mit, und ich profitiere auch davon. Aber ich mache keine krummen Geschäfte, beteilige mich nicht an unlauteren Dingen, ich verkaufe keine Spieler, ich mache keine Deals mit irgendwelchen Beratern. Ich will mit den Jungs raus auf den Rasen, wir üben zusammen, wir reden miteinander, und dann will ich mit ihnen so spielen, dass die Zuschauer glücklich sind. Und wir werden sehr gut bezahlt, weil sich viele Menschen für dieses Spiel interessieren.

Zwei Zahlen, die zeigen, wie sehr Ihr Spiel, dieser Fußballmanchesterkapitalismus außer Rand und Band ist: 222 Millionen Euro bekam der FC Barcelona im vergangenen Sommer, um Neymar zu Paris St. Germain ziehen zu lassen.
Ich schau mir das nicht mehr an. Es interessiert mich nicht, ob der oder der so viel verdient, ob bei einem Transfer eine Milliarde fließt. Wenn ich mich nicht davon distanzierte, würde ich verrückt.
Und Thomas Müller verdient – ohne Werbeverträge – 16 Millionen Euro im Jahr. Eine Kindergärtnerin bekommt knapp 40.000 Euro. Sie müsste 400 Jahre lang arbeiten, um auf ein Jahresgehalt von Müller zu kommen.
Da müssen wir gar nicht darüber reden.
Doch.
Wenn ich darüber bis in die letzte Konsequenz nachdenke, müsste ich alles hinwerfen. Aber wie wäre es, wenn ich jetzt in einem Autokonzern eine wichtige Stellung hätte und auch viel Geld verdienen würde: Müsste ich mich da nicht auch von vielen Dingen distanzieren?
Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.
So hätte ich es sagen müssen. Es ist ganz vieles kritikwürdig. Es ist ja ein Wunder, dass es den Fußball noch gibt. Ein Wunder, dass so viele Menschen den Fußball noch lieben. Es ist ein Wunder, weil an ihm so viel rumgezerrt worden ist. Stellen Sie sich mal vor, an Ihnen wäre so viel rumgezerrt worden. Von Ihnen wäre nur mehr ein Knochen, nein, allenfalls ein Knöchele übrig.
Ich nehme an, Sie denken nun an die Herren des Weltfußballs, die Bürokraten der korrupten Fifa.
Die machen ihren Job, ich will über sie gar nicht reden. Nicht weil ich Angst hätte. Sie wollen Geld verdienen, immer mehr Geld mit einem Ballspiel, das sie wahrscheinlich gar nicht lieben.
Was mich nervt: Da spielen Sie mit Ihrem SC Freiburg gegen Bayern München. 2017 war das, die Bayern wollen ihre früh gewonnene Meisterschaft feiern und schicken in der Pause die Popsängerin Anastacia aufs Feld. Es ist ein sehr wichtiges Spiel für Sie und Ihren Klub, doch Sie müssen warten, bis die Sängerin mit ihrer Show fertig ist.
Was ich bemerkenswert finde: Arjen Robben kam zu mir und hat sich entschuldigt, er sagte: "Es tut mir leid. Für Euch geht es heute um etwas, um die Qualifikation für die Europa-League. Und dann so etwas, es tut mir leid." Ich kann verstehen, wenn Sie oder die Fans sagen: Was soll das!

Was machen Sie, um dem zunehmenden Wahnsinn zu entkommen?
Ich sehe mir das alles an, ich beobachte es, und ich muss dann lächeln. Lächeln im Sinne von: "Wie kann man nur? Wie weit wollen die noch gehen?" Ich weiß, sie werden das Spiel noch mehr ausquetschen, noch mehr Kohle rausholen. Ich guck da nicht mehr so genau hin, ich lese lieber ein Buch.
Und das hilft?
Lesen ist für mich wahnsinnig wichtig. Existenziell wichtig. Mir erzählt da ein kluger Kopf eine Geschichte, und ich gehe mit ihr in einen anderen Raum. Ich bin allein mit dem Buch, nicht in einer Interviewsituation, in der ich mich erklären muss. Ich weiß nicht, ob das eine Flucht ist. Ich fahre auch gerne Fahrrad, um abzuschalten. Draußen, die Natur, der Wald helfen immer. Ich würde auch gerne kicken, aber das kann ich nicht mehr. Wenn du richtig kickst, kannst du alles vergessen. Alles Leid. Alle Trauer, sogar alle Freude.
Der Ball, hat Diego Maradona mal gesagt, sei für ihn "Mutter und Geliebte zugleich".
Ja, so mag er das sehen, das ist Symbolik. Der Ball ist rund. Der Ball ist unkontrollierbar. Deshalb üben wir die ganze Zeit, um ihn zu kontrollieren. Das ist das Faszinosum. Dieses stetige, aber vergebliche Bemühen. Auch das Leben ist vergeblich. Sie werden geboren, und in dem Moment, wo Sie geboren werden, ist die Katastrophe der Vergänglichkeit implizit. Das ist der Ball. Der Ball ist genau wie das Leben.
