Seit Samstag starren sie wieder auf ihre Tablets und Smartphones, die Schach-Aficionados in aller Welt. Sie folgen den Zügen des Weltmeisters Magnus Carlsen und des Herausforderers Viswanathan "Vishy" Anand, die sich im russischen Sotschi um den Titel balgen. Die Website des Weltschachverbandes Fide überträgt live, und wer seine Freude daran hat, zwei gut gekleideten Männern beim stundenlangen Hirnbrüten und Stirnrunzeln und Safttrinken zuzusehen, während das gigantische Schachrechenprogramm Houdini unentwegt Varianten und Bewertungen ausspuckt, wird bestens unterhalten.
Nein, für die Aficionados unter Ihnen ist das hier nicht gedacht, bei allem aufrichtigen Respekt. Sondern eben für jene, die sich wundern, dass Mitmenschen ins Marcel-Reif-hafte Schwärmen geraten - nur weil der Inder Anand im 44. Zug der ersten Partie, fünfeinhalb Stunden waren am Samstag bereits gespielt, seine Dame, seine mächtigste Figur, ganz hinten ins rechte Eck steckte. Nun ja, es war der Zug, der ihm die Partie zu einem Unentschieden rettete, zu einem halben Punkt, wie es die Regeln sagen.
Das Match ist auf 12 Partien angesetzt, und da liegt es nah, das Ganze wie einen Boxkampf zu betrachten. Vor einem Jahr hat der junge Norweger Carlsen, damals Herausforderer, den alternden Champion Anand furchtbar verprügelt; in der zehnten Runde war schon Schluss: 6,5 gegen 3,5 Punkte. Umso erstaunlicher, dass der 44-jährige Inder sich noch einmal aufraffen konnte und sich überzeugend qualifizierte für die zweite Ringschlacht gegen Carlsen.
Wie sind die ersten Runden verlaufen?
In der ersten machte Anand vom Gong an mit den weißen Steinen erheblichen Druck, und Carlsen brauchte eine Zeit, sich des Ansturms zu erwehren. Doch der Inder hielt das Tempo nicht durch; Carlsen pendelte die Angriffe geschickt aus und konterte gefährlich. Als er Anand in der Ringecke gestellt hatte, bereit zum ersten Wirkungstreffer, entwich dieser, immer schon ein brillanter Verteidigungskünstler, mit eben jenem Damenzug. Die zweite Partie begann mit neun ruhigen Zügen, aber dann suchte der junge Weltmeister, nun selbst mit weißen Steinen, den Infight, attackierte mit aller Macht. Dem Trommelfeuer hatte Anand am Ende wenig entgegenzusetzen, und dennoch war sein schrecklicher Fehler im 34. Zug, der Carlsen den ersten Punkt einbrachte, unerklärlich. Wie ein Boxer, der 20 Sekunden vor dem Rundenende die Fäuste hängen lässt, sein Kinn rausstreckt und dem Gegner sagt: "Hau rein!"
Wie reagiert das Fachpublikum?
Es ist einerseits schwer begeistert. Denn anders als im Vorjahr, da begannen beide sehr gemächlich und mit früh vereinbarten Unentschieden, schlagen sich die Kontrahenten nach allen Regeln der Kunst. Wobei einer besser trifft. Andererseits ist es fassungslos ob der Deckungsschwäche Anands.
Was ist zu erwarten in den nächsten Tagen?
Der 23-jährige Norweger hat mit dem Sieg vom Sonntag seinen Kontrahenten böse erschüttert. Er wird nun auf seine Konditionsvorteile setzen und den angeknockten Gegner in eine Abnutzungsschlacht zwingen. Er wird lange Partien spielen, in ausgeglichenen Stellungen nicht ins Unentschieden einwilligen wollen, zermürben ist sein Ziel. Auch im Denksport sind 20 Jahre Altersunterschied ein gewaltiger Vorteil, 12 Runden Hochleistungsschach führen Akteure an psychische wie an physische Grenzen. Der Inder wiederum wird sich von seinen Sekundanten pflegen lassen müssen, diesen fürchterlichen Schlag verdauen, vielleicht ein, zwei ruhige Unentschieden anstreben, und dann irgendwann auf einen "lucky punch" hoffen, auf einen Überraschungssieg aus einer gut präparierten Eröffnung heraus oder nach einer Unachtsamkeit Carlsens.
Ist der Kampf gar schon entschieden?
Sagen wir mal so: Wer jetzt Geld auf Anand setzt, kriegt eine verdammt gute Quote.
Herrscht in Sotschi Weltmeisterschaftsstimmung?
Russland mit seiner großartigen Schachtradition ist eine gute Wahl als Austragungsland, und Dank Gazprom&Co, ist auch das Preisgeld von 1,5 Millionen Dollar kein Problem. Aber das stille Schach zieht nun mal keine fahnenschwenkenden Fans an. Hochstimmung indes in Norwegen und Indien: Denn beide Kämpfer sind Sporthelden ihrer Länder, das norwegische Fernsehen etwa zeigt die Partien live und in voller Länge. Man stelle sich das in der ARD vor. Sieben Stunden Schach am Stück...