Anhand der Wunschzettel der Kinder aus den "Archen" lässt sich erkennen, dass es in Deutschland viele arme Familien gibt. Wie erleben Sie das, Herr Büscher?
Man muss sich vorstellen, dass wir in einer Parallelgesellschaft leben. Ich habe neulich mit einem Mädchen in einer Arche in Rostock gesprochen. Sie hat mit gesagt: "Ich esse mittags mit meiner Mutter immer ganz wenig, damit wir auch am kommenden Tag noch was zu essen haben." Das heißt, Kinder werden täglich damit konfrontiert, dass kein Geld zu Hause ist. Dass kein Geld für Essen da ist und man sich nicht gesund ernähren kann. Dass kein Geld für Spielzeug da ist. Das ist schrecklich traurig. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass wir in Deutschland mal in eine solche Situation kommen können.
Wie fällt Weihnachten für diese Familien aus?
Es gibt zu Hause keine Geschenke und viele Familien haben keinen Weihnachtsbaum. Das Fest findet praktisch gar nicht statt. In Berlin sind tausend Kinder mit ihren Eltern im Hofbräuhaus eingeladen, die dort kostenlos eine Weihnachtsgans mit Rotkohl und Klößen essen können. Die Kinder bekommen auch Geschenke, weil es zu Hause nichts gibt. Im Moment ist das Geld so knapp, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Inflation frisst die Kinder auf. Wir reden hier nicht von einigen hundert oder tausend Kindern, einige hunderttausend sind von dieser Situation betroffen. Wenn wir alle gemeinsam diese Kinder nicht unterstützen, kommen wir aus dem Kreislauf der Armut nicht heraus. Diese Kinder werden ohne unsere Hilfe später nie ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Wie kann jeder Einzelne helfen?
Die Kinder, die in Deutschland in prekären Familien leben, sind auf Spenden angewiesen. Auf die Hilfe der Menschen, die sie privat gar nicht kennen. Wir alle sind verpflichtet, diesen Kindern zu helfen. Für mich ist das immer ganz schlimm, wenn ich in einer deutschen "Arche" bin und den Müttern und Kindern in die Augen schaue. Dann wird mir immer wieder klar: Sie sind in einer so prekären Situation, sie kommen da ohne unsere Hilfe nicht wieder raus. Ich liege dann abends wach im Bett und denke über diese Kinder nach. Ich finde es unwahrscheinlich traurig, dass wir in Deutschland nicht in der Lage sind, den Kindern auch mit politischen Mitteln mit finanzieller Unterstützung zu helfen.
Apropos Politik: Ich habe gehört, dass manche Minister nicht in TV-Talkrunden kommen, wenn Sie auch eingeladen sind. Wie erklären Sie sich das?
Es geht eigentlich gar nicht um meine eigene Person, aber es ist ein großes Problem. Ich habe das gerade bei "Lanz" erlebt. Was will ein Politiker da sagen? Es heißt immer, 20 Prozent der Kinder in Deutschland leben in Armut, auch das ist eine schlimme Zahl. Aber es sind erheblich mehr. Wenn eine Mutter zum Beispiel 5 Euro mehr in der Tasche hat, fällt sie aus der Armutsstatistik heraus. Aber ihre Situation ist genauso wie bei den Familien, die von Transferleistungen leben müssen. Und solange man arbeiten geht und dann noch aufstocken muss, kann doch was im System nicht stimmen. Da müssen wir alle, Ihre Leserinnen und Leser, die Fernsehzuschauer, kämpfen, dass es den Menschen besser geht. Wir müssen ihnen aus dieser Lage heraushelfen.
Uns haben viele Wunschzettel der "Arche"-Kinder erreicht, auf einem hat sich ein Kind ein eigenes Handtuch gewünscht. Das ist ein sehr bescheidener Weihnachtswunsch.
Ich habe im vergangenen Winter einen Jugendlichen getroffen, der war 17 Jahre alt. Er kam mit kurzer Hose und barfuß in Turnschuhen in die "Arche". Ich habe, obwohl ich die Situation ja kenne, zu ihm gesagt: "Mein Gott, was bist du cool!" Aber er ganz locker: "Ich habe im Moment keine Jeans, meine ist kaputtgegangen. Dann habe ich die Leiterin der Berliner "Arche" angesprochen und sie ist mit ihm in die Kleiderkammer gegangen und hat ihn neu eingekleidet. Es stimmt, dass viele nicht mal die nötigsten Kleidungsstücke haben. Es gibt auch keine Bücher zu Hause. Die wirklich oft gestellte Frage von Kindern in den "Archen" ist immer: "Wolfgang, hast du 20 Cent? Ich möchte mir was Süßes kaufen." Das ist für mich erschütternd. Ein Wirtschaftssystem kann nicht funktionieren, wenn – ich sag das mal überspitzt – einer alles hat und alle anderen haben nichts. Wir brauchen ein solides Grundeinkommen, dass Väter und Mütter vernünftig leben und ihre Kinder aufziehen können. Nur so werden es starke Kinder. Das ist im Moment nicht der Fall. In Bremerhaven leben 50 Prozent der Kinder unterhalb der Armutsgrenze, in Berlin sind es 30 Prozent, in Hamburg 20 Prozent. Ich bin immer wieder aufs Neue erschüttert, wenn ich von solchen Schicksalen höre.

Was brauchen Sie an finanziellen Mitteln, um die Weihnachtswünsche zu erfüllen?
Wir sagen, mit einer Spende von 20 Euro kann man einem Kind einen Herzenswunsch erfüllen. Wir haben jedes Jahr in jeder der 29 "Archen" eine Weihnachtsfeier und für mich ist es immer das Schönste, dann die strahlenden Gesichter zu sehen. Wenn zum Beispiel ein kleiner Junge einen Bagger geschenkt bekommen hat oder ein Mädchen, um bei den klassischen Wünschen zu bleiben, eine Puppe. Die Freude der Kinder über ganz kleine Dinge ist wirklich groß.
Auf den Wunschzetteln der Jugendlichen stehen auch Dinge wie ein iPhone oder Turnschuhe von Nike. Sind solche Markenprodukte wichtig für den sozialen Status?
Wenn ein Kind aus einer ganz normalen, wohlsituierten Familie kommt, kann es auch so selbstbewusst sein, um zu sagen: "Ich brauche keine Markenjeans, ich brauche kein Marken-T-Shirt, ich bin ich." Wenn man aber mit dem Finger auf Kinder zeigt und sagt: "Du bist ein Hartzer", die Eltern beziehen also Hartz IV, dann sind gerade diese Statussymbole enorm wichtig. Ich habe allerdings in den letzten zwei Jahren der Pandemie auch erlebt, dass unsere Kinder iPads gebraucht haben und vernünftige Handys, um Kontakt zu ihren Schulen zu halten. Wir haben Kinder erlebt, die haben 100 Seiten Papier bekommen und hatten dann drei Monate lang keinen Kontakt zur Schule. Diese Kinder scheitern heute alle in der Schule. In einer Hamburger Schule, habe ich von der Leiter der "Arche" gehört, sind 40 Prozent funktionale Analphabeten, weil sie gescheitert sind. Insofern sind auch ein vernünftiges Handy und ein vernünftiger Laptop oder auch Markenklamotten wichtig, damit die Kinder nach außen zeigen können: Ich bin wer, ich möchte dazugehören. Das ist ganz, ganz wichtig.
Sharon aus dem Wedding hat sich eine größere Wohnung gewünscht, damit sie ein eigenes Zimmer bekommen kann. Dieser Wunsch ist wohl kaum erfüllbar, was macht man da?
Die zu kleinen Wohnungen sind für unsere Kinder ein Desaster. Der Leiter der Jugendakademie von Hertha BSC erzählte mir kürzlich von einem jungen, talentierten Fußballspieler, die Eltern waren vor einigen Monaten aus Afrika geflüchtet. Der 17-Jährige sackte auf einmal in der Schule in allen Bereichen ab, auch im Leistungssport. Und Pablo Thiam, so heißt der Hertha-Manager, ist dann einfach mal unangemeldet bei der Familie vorbeigefahren. Man hat ihn hereingelassen und sie wohnte zu acht in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Da konnte der junge Mann natürlich nicht lernen, konnte sich nicht konzentrieren und konnte nicht richtig schlafen. Hier hat man versucht, eine größere Wohnung zu besorgen und hat den Jungen ins Hertha-Internat aufgenommen und plötzlich zog die Leistung an, in der Schule wie im Sport. Ich erzähle das, um zu zeigen, dass eine etwas größere Wohnung ebenso wichtig ist. Auf zu beengtem Raum kann ich mich nicht konzentrieren, viele der Kinder haben keinen Schreibtisch. Mir hat die Nachhilfelehrerin in Berlin-Hellersdorf, die digital unterrichtet, kürzlich gesagt: "Ich erkenne unsere Kinder am Muster des Teppichs." Die machen ihre Hausaufgaben auf dem Fußboden, weil kein Schreibtisch da ist. Auch das ist eine traurige Geschichte.
Hat Sie ein Weihnachtswunsch besonders bewegt?
Wenn ich ein Kind in der "Arche" frage: "Was wünschst du dir zu Weihnachten?" und es antwortet: "Dass wir immer genug zu essen haben", dann ist das für ein Land wie Deutschland erschütternd. Wenn ein Kind schon in jungen Jahren mit solchen Problemen konfrontiert wird, dann ist der Kopf nicht mehr frei für die Schule, fürs Spielen oder für Freunde. Ich verstehe nicht, dass unsere Politikerinnen und Politiker nicht aufschreien, wenn sie solche Sätze hören. Ich appelliere an die Menschen in Deutschland: Wir müssen zusammenstehen, um diesen Familien zu helfen, denn wir haben nur eine einzige Ressource in Deutschland und das sind Kinder. Davon werden Millionen vernachlässigt.
Was soll die Politik genau tun?
Wir fordern eine Kindergrundsicherung. Ein Kind soll vom ersten Tag bis zum 27. Lebensjahr 600 Euro erhalten, nicht wie das Kindergeld aufs Konto der Eltern, sondern aufs Konto der Kinder. Die Hälfte davon soll an Kitas und Schulen fließen für eine bessere Ausbildung, mehr Lehrer, mehr Psychologen, mehr Pädagogen, die andere Hälfte geht aufs Konto der Kinder. Und wir brauchen eine App, mit der Kinder bestimmte Dinge abrufen können, die gibt es bereits in einigen Städten. Die Kinder könnten damit eine Mitgliedschaft im Sportverein bezahlen oder auch mal einen Restaurantbesuch. Wenn Ihnen ein 20-jähriger Junge in einer "Arche" erzählt: "Ich war noch nie in meinem Leben essen", finde ich das sehr weltfremd. Unsere Kinder brauchen Teilhabe, sie müssen ins Kino und ins Theater gehen können und in den Urlaub fahren. Wenn sie das nicht tun, sind sie wie Außerirdische.