Schwer zu sagen, ob dem amerikanischen Notenbankchef Alan Greenspan die alarmierenden Wirtschaftsdaten, die wachsende Kritik oder einfach das Alter weitere Sorgenfalten ins Gesicht getrieben haben. Jedenfalls sieht man den 75-jährigen in diesen Tagen selten ohne tiefe Runzeln auf der Stirn. Am Dienstag trägt er unter den Augen der Weltpresse wieder seine verbeulte Aktentasche mit den Zinsempfehlungen in die Notenbankzentrale in Washington. Doch Händler und Märkte reagieren kaum noch auf das, was Greenspan der siechenden US-Wirtschaft wahrscheinlich erneut verordnen wird: eine Zinssenkung. Weil die neun Zinsschnitte dieses Jahres praktisch keine Wirkung zeigten, hat Greenspan den Nimbus des Finanzgenies eingebüßt.
Zenith überschritten
Früher, da hielten die Börsenhändler den Atem an, wenn die Notenbank um Punkt 20.15 MEZ ihre Zinsentscheidung veröffentlichte. Jede Äußerung Greenspans, seine Gesten und sein Blick wurden analysiert und konnten Märkte bewegen. In den 90er Jahren dirigierte Greenspan die Wirtschaft als Fed-Chef zum längsten Wirtschaftsboom der US-Geschichte. Im Januar 2000, nach fast einem Jahrzehnt ununterbrochenen Wachstums, war Greenspan auf dem Zenit seiner Karriere. Er wurde mit überwältigender Mehrheit für eine vierte Amtszeit bestellt. Der Vorsitzende des Bankenausschusses im Senat, Phil Gramm, rühmte ihn als den »größten Notenbanker aller Zeiten«.
Fehler häuften sich
Doch seit Mitte vergangenen Jahres ist alles anders. Greenspan habe das Ende des Technologiebooms zu spät gesehen und die Kehrtwende in der Zinspolitik Anfang dieses Jahres zu spät vollzogen, wurde dem 1987 ernannten Fed-Chef vorgeworfen. Seitdem läuft nichts mehr so wie vorher. So aggressiv wie nie zuvor hat Greenspan die Leitzinsen zurückgenommen. Doch die Unternehmer ließ die Gelegenheit günstiger Neuinvestitionen kalt. Die Lagerbestände aus den Boomjahren waren zu groß, die in Zeiten des Börsenbooms angehäuften Schulden zu hoch, um einen schnellen Neuanfang zu suchen.
Tanzte auf zu vielen Hochzeiten
Weil die Medizin nicht wirkt, steht der Arzt am Pranger. War Greenspan während der Boomjahre jedermanns Darling und sein Rat in allen wirtschaftlichen Lebenslagen gesucht, werfen Senatoren und Volkswirte ihm heute vor, auf zu vielen Hochzeiten zu tanzen. Er hätte sich nicht gewundert, Greenspan an der Seite von New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani zu sehen, um die Aufräumarbeiten nach den Terroranschlägen zu leiten, sagte der republikanische Senator Jim Bunning der »Washington Post« halb im Scherz.
Auf eigene Aufgaben konzentrieren
»Wo man auch hinschaut, Greenspans Name taucht auf. Dabei macht er seinen eigenen Job noch nicht einmal gut«, meinte Bunning. Auch dessen demokratischer Kollege Byron Dorgan ist unzufrieden: »Er würde dem Land am besten dienen, wenn er die Geldpolitik im Griff behält. Aber es liegt auf der Hand: er greift nach allem, was darüber hinausgeht.«
Meidet das Rampenlicht
»Viele haben das Gefühl, dass bei Greespans Stern der Glanz abbröckelt«, meinte Stephen Moore, der in Washington ein politisches Aktionskomitee präsidiert, das sich für Steuersenkungen einsetzt. Dabei drängt Greenspan nicht von selbst ins Rampenlicht. Der Fed-Chef gibt so gut wie keine Interviews, und seine verklausulierte Redeweise eignen sich nicht für Schlagzeilen. Die Senatoren selbst und vor allem US-Präsident George W. Bush suchen bei dem erfahrenen Notenbanker Rat, etwa zur Beurteilung geplanter Steuersenkungen oder dem gerade diskutierten Konjunkturpaket.
Konjunktur ist mehr als nur Zinsen
Und auch, wenn Greenspan nicht den Eindruck macht, als habe ihn die Alan-Manie der vergangenen Jahre je gestört: der Kommentator der »Washington Post«, Robert Samuelson, hält fest, dass Greenspan selbst an seiner eigenen Legende nie gestrickt hat. Die ein Jahrzehnt so erfolgreiche Geldpolitik hat bei anderen den Eindruck unbändiger Macht der Fed über den Verlauf der Wirtschaft erweckt. Dass die Konjunktur durch vieles andere als die Zinsen beeinflusst wird, geriet in Vergessenheit. »Im Alan-Jubel der vergangenen zehn Jahre sind diese Details verloren gegangen. Der Fed wird die Macht zugeschrieben, praktisch jede Gefahr von der Wirtschaft abwenden zu können. Das ist leider eine Illusion.«
Christiane Oelrich