In Deutschland hat sich die Wirtschaftserholung in diesem Jahr gefestigt, 2005 verliert der Aufschwung allerdings wieder an Fahrt. Die Bundesrepublik wird voraussichtlich zum vierten Mal in Folge den EU-Stabilitätspakt brechen. Am Arbeitsmarkt verbessert sich die Lage kaum, der Exportzuwachs schwächelt, gleichzeitig ist der private Konsum nach wie vor zu gering. Das sind die Kernaussagen des am Dienstag in Berlin veröffentlichten Herbstgutachtens der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute.
Fünf der sechs Institute erwarten 2005 ein Wachstum von 1,5 Prozent, nach 1,8 Prozent in diesem Jahr. Für den Rückgang machen die Experten unter anderem den hohen Ölpreis, die zögerliche Binnennachfrage und die im nächsten Jahr geringere Zahl an Arbeitstagen verantwortlich.
Zum vierten Mal über der Drei-Prozent-Grenze
Außerdem gehen die Forscher davon aus, dass Deutschland 2005 ein Staatsdefizit von 3,5 Prozent (rund 78 Milliarden Euro Schulden) ausweisen muss und damit zum vierten Mal in Folge die Drei-Prozent-Grenze des EU-Stabilitätspaktes überschreiten wird. Für dieses Jahr rechnen die Experten mit einem Schuldenberg von 83 Milliarden Euro, was eine Defizitquote von 3,8 Prozent bedeuten würde.
Während sich alle sechs Institute bei der Wachstumserwartung von 1,8 Prozent für das laufende Jahr einig waren, schwenkte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bei der Prognose für 2005 aus. Die DIW-Experten rechnen mit einer Wachstumssteigerung um zwei Prozent.
DIW: Steigende Exporte treiben Wachstum an
Das DIW erwarte im Gegensatz zu den anderen Instituten keine Konjunkturabflachung, sondern "es geht vielmehr von einer leichten Beschleunigung im Verlauf aus", heißt es in einer Stellungnahme. "Im Gegensatz zur Mehrheit der Institute prognostiziert das DIW Berlin trotz der sich leicht abschwächelnden Weltkonjunktur weiterhin kräftig steigende Exporte."
Die anderen Institute erwarten dagegen, "dass die außenwirtschaftlichen Impulse schwächer werden, da der globale Aufschwung in seinen Kraftzentren USA und China an Tempo verliert". Vor diesem Hintergrund würden die Exportzuwächse in der Tendenz sinken, gleichzeitig expandiere die Inlandsnachfrage nicht stark genug, um dies auszugleichen.
Risiko Ölpreis
Die Entwicklung des Rohölpreises stellt nach einhelliger Meinung der Institute "ein wesentliches Risiko" für die Prognose dar. "Hier wird ein Rückgang der Notierungen bis Ende 2005 unterstellt. Davon sind jedoch deutliche Abweichungen in beide Richtungen möglich." Ein weiterer Risikofaktor sei das Leistungsbilanzdefizit der USA. Eine Abwertung des US-Dollar würde die Weltkonjunktur dämpfen und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verringern.
Der Arbeitsmarkt konnte nach Ansicht der Forscher von dem moderaten Wachstum in diesem Jahr nicht spürbar profitieren. Zwar nehme die Zahl der Beschäftigten seit Jahresbeginn langsam zu, dies sei aber vor allem eine Folge von Minijobs und Ich-AGs. Eine „rasche und durchgreifende Besserung der Lage am Arbeitsmarkt“ sei im nächsten Jahr wenig wahrscheinlich. In ihrem Gutachten gehen die Experten von einer Verringerung der Arbeitslosenquote von 10,2 Prozent (4,368 Millionen) in diesem auf 10,1 Prozent (4,334 Millionen) im nächsten Jahr aus.
Die Eckdaten des Herbstgutachtens
KONJUNKTURDATEN | 2002 | 2003 | 2004 | 2005 |
Bruttoinlandsprodukt(%) | + 0,1 | - 0,1 | + 1,8 | + 1,5 |
- Westdeutschland | + 0,2 | - 0,1 | + 1,8 | + 1,5 |
- Ostdeutschland | + 0,1 | + 0,2 | + 1,4 | + 1,5 |
Verbraucherpreise (%) | + 1,4 | + 1,1 | + 1,6 | + 1,5 |
Erwerbstätige (in Mio.) | 38,69 | 38,31 | 38,39 | 38,61 |
Arbeitslose (in Mio.) | 4,061 | 4,377 | 4,368 | 4,334 |
Arbeitslosenquote (%) | 9,5 | 10,3 | 10,2 | 10,1 |
Defizitanteil (%) | 3,7 | 3,8 | 3,8 | 3,5 |
Trotzdem sehen die sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute Grund für vorsichtigen Wachstums- und Beschäftigungsoptimismus. Sie kommen zu folgenden Kernaussagen:
Binnenkonjunktur
"Das Jahr 2005 wird laut Prognose der Institute konjunkturell kein schlechtes Jahr."
"Alles in allem wird das reale Bruttoinlandsprodukt (2005) laut Prognose der Mehrheit der Institute um 1,5 Prozent zunehmen nach 1,8 Prozent im Jahr 2004. Im Jahr 2004 ist die Zahl der Arbeitstage ungewöhnlich hoch, 2005 ist sie wieder etwas geringer. Unter Ausschluss der davon ausgehenden Effekte auf die gesamtwirtschaftliche Produktion ergibt sich für 2004 ein Anstieg um 1,3 Prozent und für 2005 um 1,7 Prozent."
"Das DIW Berlin prognostiziert dagegen für das kommende Jahr einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,0 Prozent. Es teilt die Auffassung der Mehrheit der Institute nicht, dass sich die Konjunktur im Jahr 2005 wieder abflacht, sondern geht von einer leichten Beschleunigung im Verlauf aus."
Arbeitsmarkt
"Die konjunkturelle Erholung hat bisher nicht zu einer Besserung der Lage am Arbeitsmarkt geführt. Zwar nimmt die Zahl der Beschäftigten seit Jahresbeginn (2004) langsam zu. Dies ist aber vor allem eine Folge der neuen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik wie Minijobs und Ich-AGs. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist hingegen weiter gesunken. Mit fortschreitender Belebung der Konjunktur werden sich allmählich die Beschäftigungsperspektiven aufhellen."
"Alles in allem dürfte die Zahl der Erwerbstätigen im Prognosezeitraum (bis Ende 2005) weiter steigen, insbesondere im Niedriglohn- und Teilzeitbereich. Die Zahl der Arbeitslosen wird etwas abnehmen."
Ölpreis und andere Risiken
"Gemeinsam sind die Institute der Meinung, dass die Entwicklung des Rohölpreises ein wesentliches Risiko für die Prognose birgt. Hier wird ein Rückgang der Notierung bis Ende 2005 (auf etwa 37 Dollar pro Barrel) unterstellt. Davon sind jedoch deutliche Abweichungen in beide Richtungen möglich. Ein weiterer Risikofaktor ist das hohe Leistungsbilanzdefizit der USA. Käme es deshalb zu einer deutlichen Abwertung des US-Dollar, so würde dadurch die Weltkonjunktur gedämpft und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft würde sich verringern; beides würde die deutsche Ausfuhr belasten."
Geldpolitik
"Die Geldpolitik wirkt nach wie vor anregend auf die Konjunktur im Euroraum und in Deutschland. An diesem Kurs sollte die EZB nach Einschätzung der Institute ungeachtet des durch den Ölpreis bedingten Anziehens der Inflationsraten im Grundsatz festhalten, soland es keine Anzeichen dafür gibt, dass die höheren Energiepreise Zweitrundeneffekte signalisieren. Es ist angemessen, dass sie ihren Leitzins im kommenden Jahr um einen Viertel Prozentpunkt heraufsetzt, denn die Risiken, die zu dem außerordentlich niedrigen Zins geführt haben, bestehen zum großen Teil nicht mehr."
Haushaltspolitik und Defizit
"Das staatliche Defizit beträgt in diesem Jahr voraussichtlich knapp 83 Milliarden Euro (3,8 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt). Zwar ist für das kommende Jahr mit einer Abnahme auf 78 Milliarden Euro (Defizitquote 3,5 Prozent) zu rechnen. Jedoch wird damit die im Stabilitäts- und Wachstumspakt genannte Obergrenze im vierten Jahr in Folge überschritten, wenn nicht mehr gespart wird."
Weltwirtschaft
"In der Weltwirtschaft hält der kräftige Aufschwung an, verliert aber seit dem Frühjahr 2004 etwas an Fahrt. Die Abschwächung erklärt sich zum Teil aus einer Straffung der bisher sehr expansiven Wirtschaftspolitik."
"Insgesamt dürfte das reale Bruttoinlandsprodukt in der Welt im kommenden Jahr mit einer Rate von 3,2 Prozent zunehmen, nach einem sehr kräftigen Anstieg um 3,9 Prozent in diesem Jahr. Insgesamt scheinen die konjunkturellen Antriebskräfte so gefestigt zu sein, dass trotz des Ölpreisanstiegs und der nachlassenden Impulse der Geld- und Finanzpolitik ein Abgleiten in einen Aufschwung nicht zu erwarten ist. Gleichwohl bildet der Ölpreisanstieg ein besonderes Risiko." (spi)