Herr Rausch hat Linsensuppe gekocht. "Probieren Sie", sagt er und reicht einen Teller durch die Öffnung seines Kiosks. Um die Mittagszeit ist kaum ein Mensch zu sehen: Gegenüber hängt die blaue Fahne der Vereinten Nationen schlaff an der Stange, wenige Meter weiter rechts beginnt die Einfahrt zum Bundeskanzleramt, aus dessen Fenstern Schläuche führen - das Haus wird von Asbest befreit. Rechts vom Kiosk öffnet sich der Vorplatz zum Plenarsaal, entworfen vom Architekten Günter Behnisch; ein Sicherheitsmann bewacht die gläserne Pforte. Weiter unten fließt der Rhein. Willkommen in Bonn. "Früher standen die Abgeordneten bei mir Schlange", erzählt Jürgen Rausch, der seit 1984 im Kiosk bedient. Heute kauft mal ein Bauarbeiter Zigaretten, oder Touristen legen eine Rast ein auf dem "Weg der Demokratie", welcher durch das Bundesviertel verläuft: vom Museum Koenig, in dem 1948 der Parlamentarische Rat eröffnet wurde, bis zum Langen Eugen, einst das Abgeordneten-Hochhaus.
Seit 1948 wurde hier bundesdeutsche Geschichte geschrieben. Doch als am 20. Juni 1991 über den Regierungssitz des vereinten Deutschlands abgestimmt wurde, kam es zum bekannten Ergebnis: Berlin gewann.
Die Touristen,
ein Ehepaar mit Sohn, die eben bei Jürgen Rausch Kaffee bestellt haben, sind weitergegangen, sie stehen vor dem ehemaligen Bundeshaus und studieren die Metalltafel, auf der erklärt wird, dass hier einst Bundesrat und Bundestag untergebracht waren. Die vielen Anbauten lassen es wie einen Flickenteppich wirken; es wird deutlich, warum Bonn lange Zeit als Provisorium gehandelt wurde. Wie ein Basislager, von dem man schnell wieder aufbrechen wollte.
Der Grabstein
des Regierungsviertels steht vor dem modernsten Bau: Auf der Metalltafel vor dem Plenarsaal von Günter Behnisch ist verzeichnet, dass die letzte Parlamentssitzung am 1. Juli 1999 stattgefunden hat. Erst 1992 war der Bau fertig gestellt worden. Heute dient er als Veranstaltungsort für Kongresse.
Birgit Schierbaum öffnet eine der Glastüren; sie arbeitet im Marketing beim Betreiber des Kongresszentrums und ist es gewöhnt, Werbung zu machen für diesen Ort, der wirkt, als wäre er gerade evakuiert worden. Routiniert führt sie Besucher durch die Säle, die Besprechungszimmer und die bunte Kantine; sie weist auf ein Beuys-Kunstwerk hin, das neben einem Toiletteneingang hängt; sie erklärt, dass die Vogelschablonen auf den hohen Fenstern Seeadler darstellen. "Jemand hat mir mal gesagt, Behnisch habe mit so starker Liebe zum Detail gearbeitet, dass man von einer postmodernen Ausprägung des Barock sprechen könnte", erzählt die Marketingfrau im Ton einer Museumsführerin. Der Betrieb laufe zur Zufriedenheit der Pächter, die übrigens keine Miete zahlen, sondern nur für die Nebenkosten aufkommen, so Schierbaum. Regelmäßig würden kleine und große Veranstaltungen abgehalten, komplett ausgelastet sei man zuletzt im Juni 2004 gewesen. Damals tagte eine internationale Konferenz für erneuerbare Energien. Dann zeigt Birgit Schierbaum eine Preisliste: ein Tag Plenarsaal kostet 11100 Euro. Plus Kosten für die Technik.
Vom Behnisch-Bau
führt der Weg vorbei an Bürgervillen, in denen bis zum Umzug viele Vertretungen der Bundesländer untergebracht waren, zum südlichen Ende des Bundesviertels, das markiert wird von einem Glasgiganten: dem Post Tower, der 162,50 Meter hoch aufragt. Das Posthorn, das seit 2003 dort oben prangt, zeigt an, wer neuer Herr im Viertel sein will.
Der Tower hat einen bescheidenen Nachbarn, dessen Name mit einem der größten Baudesaster der Bundesrepublik verbunden ist: der Schürmann-Bau, ursprünglich geplant als Bürohaus für 700 Abgeordnete. Im Dezember 1993 flutete Rheinwasser den Keller, das Grundstück verwandelte sich in eine Trümmerlandschaft. Zehn Jahre und über 300 Millionen Euro Sanierungskosten später zog die Deutsche Welle mit mehr als 1000 Mitarbeitern ein. Sie produzieren Radioprogramme in 29 Sprachen - und können von sich behaupten, in einem Bauwerk zu arbeiten, das an jeder Ecke eine andere architektonische Finesse birgt. Andreas Roling, der im Haus als Planungsingenieur tätig ist, sagt, dass er die kompositorische Leistung des Architekten achte. "Aber ich musste schon zu viele Konflikte mit Joachim Schürmann austragen, um unbefangen auf sein Gebäude blicken zu können." Schürmann sei ein Idealist, kein Pragmatiker, jeder Kabelschacht sei ihm zuwider gewesen. Noch heute, da der Architekt längst im Ruhestand ist, kämen regelmäßig die Planer der Deutschen Welle zu ihm ins Wohnzimmer, um etwa über die Veränderung von Büroräumen zu diskutieren, so Roling.
Zurück zu Jürgen Rausch, vorbei an den Gärten der ehemaligen Wohnhäuser der Abgeordneten, in denen das Laub, vom Wind hin- und hergeweht und schon lange nicht mehr weggeharkt wird. Bald soll hier eine Erweiterung des Kongresszentrums entstehen; geplant ist ein Ensemble aus einem Saal, der 3500 Zuhörer fasst, einem Parkhaus und einem Fünf-Sterne-Hotel direkt neben dem Kanzleramt, das, sobald die letzte Asbestfaser beseitigt ist, Dienstsitz des Entwicklungsministeriums werden soll.
"Und was geschieht mit mir?", fragt sich Jürgen Rausch. In eine Ladenzeile am Hotel lasse er sich nicht pressen, er sei doch eine Institution. Vielleicht geht er - wie das alte Bonn - langsam in Rente. Das neue Bonn wird eine Mischung sein aus UN-Beamten, die in den Langen Eugen ziehen, aus Kongressteilnehmern und aus Touristen, die einen Spaziergang durch die alte Bundesrepublik machen wollen. "Wir werden die Zukunft nicht aufhalten können", bilanziert Rausch. Dann sperrt er seine Bude zu für heute.