Altersteilzeit Die Legende vom Dachdecker

  • von Roman Heflik
SPD-Chef Kurt Beck will, dass Arbeitnehmer, die körperlich hart arbeiten, früher in Rente gehen können. Deshalb soll der Staat auch künftig die Altersteilzeit subventionieren. Doch von der Wohltat profitieren die Falschen.

Morgens beim Aufstehen, sagt Maurizio Gagliardi, den seine Kollegen nur Mauro nennen, fühle sich sein Körper manchmal so an, als sei er aus Holz: jede Muskelfaser mit zähem Harz gefüllt und jedes Gelenk so starr wie morsches Wurzelwerk, das beim kleinsten Ruck zu brechen droht. Trotzdem kämpft sich der 57-Jährige jeden Morgen gegen halb sechs aus dem Bett und zieht seine Arbeitskluft an. Zwei Stunden später klettert er eine schwankende Aluleiter zu seinem Arbeitsplatz empor. Mauro ist Dachdecker, und das schon sehr lange. Seit 1973, um genau zu sein, dem Jahr, in dem der Metzgergehilfe aus der italienischen Adria-Stadt Fano zum Arbeiten nach Deutschland kam.

An diesem Junitag führt die Leiter auf das Dach des Gästehauses der Deutschen Bundesbank im Norden Frankfurts. 5000 Quadratmeter Flachdach soll die Dachdeckerfirma Löw AG hier oben erneuern. Zusammen mit den fünf Mann aus seinem Trupp hat Mauro in den vergangenen Wochen den alten Dachbelag brachial mit der Spitzhacke herausgerissen, jetzt wuchtet er 40 Kilo schwere Teerpapperollen an die richtigen Stellen, rollt sie aus und zündet seinen Propangasbrenner. Die Flamme faucht und verschmelzt die einzelnen Bahnen des Deckmaterials miteinander. Arbeit, Flammenhitze und die Sommersonne treiben den Männern Schweißperlen auf die Stirn. "Wir haben auch schon bei minus zehn Grad draußen gearbeitet, aber dann ist die Pappe nicht mehr so biegsam", sagt Mauro.

"Bis Mitte 60 zu arbeiten, das schaffe ich auf keinen Fall"

Der Italiener schuftet so seit 35 Jahren, doch erst seit Kurzem sind er und seine Kollegen unversehens zu einem politischen Symbol dafür geworden, dass nicht jeder bis 67 arbeiten könne. "Mit 63 steigt ein Dachdecker nicht mehr bei jedem Wetter aufs Dach", sagt Kurt Beck gern in Interviews und Reden. Deswegen, so fordert der SPD-Chef, sollten "punktuelle Härten" bei der Rente mit 67 abgefedert werden. Vor Kurzem nun hat das SPD-Präsidium eine Verlängerung der Altersteilszeit gefordert: Besonders hart arbeitenden Beschäftigten müsse man die Chance auf einen flexiblen Übergang in den Ruhestand einräumen.

Das klingt logisch, gar human. Denn Menschen wie Mauro schinden sich schlicht kaputt: Zwei Knieoperationen hat der Vorarbeiter hinter sich, beim Bücken und beim Zerren an den schweren Bitumenbahnen schmerzen ihm die Bandscheiben, gegen die Muskelentzündung im rechten Arm nimmt er seit Tagen Tabletten. Jahrelang hat der zähe Dachdecker durchgehalten, aber jetzt verschränkt er die Arme vor der kräftigen Brust und schüttelt den Kopf: "Bis Mitte 60 zu arbeiten, das schaffe ich auf keinen Fall." Mauro weiß: Sein Jahrgang kann frühestens mit 63 vorzeitig in Ruhestand gehen, und selbst dann würde man ihm lebenslang seine Rente um 7,2 Prozentpunkte mindern. Das kann er sich nicht leisten. Mit der Altersteilzeit, wie sie die SPD weiterhin gern hätte, könnte er sich schon jetzt schonen, ohne später schmerzhafte Abschläge fürchten zu müssen.

Das Dumme ist nur: Mauro kann sich die Altersteilzeit trotzdem nicht leisten - und zwar jetzt nicht. Dafür verdient er zu wenig. "Bei etwas mehr als 2000 Euro netto kann ich nicht auf fast die Hälfte verzichten", sagt Mauro. "Ich muss doch die Miete zahlen, außerdem will ich meinen Lebensstandard halten." Sein Chef, Peter Löw, kennt das schon: "Wir bieten zwar Altersteilzeit an, aber das nimmt kein Mitarbeiter in Anspruch. Das rechnet sich für die meisten nicht." Die Forderung nach der Altersteilzeit ist zwar gut fürs soziale Image von Kurt Becks SPD. Sie hat allerdings einen Schönheitsfehler: Ausgerechnet Menschen wie Dachdecker Mauro werden davon nicht profitieren.

415.000 Menschen nutzen die Altersteilzeit

Die staatlich geförderte Altersteilszeit gibt es seit Mitte der 90er Jahre: Arbeitnehmer ab 55 Jahre können mit ihrem Arbeitgeber vereinbaren, bis zu ihrem Renteneintritt für den halben Lohn die Hälfte der Zeit zu arbeiten, ohne dass die spätere Rente wesentlich sinkt. Oft stocken die Firmen den Lohn auf 70 bis 80 Prozent des letzten Arbeitsentgelts auf und versüßen damit ihren Altgedienten den Ausstieg auf Raten. Etwa 415.000 Arbeitnehmer nutzten Ende 2007 in Deutschland diese Regelung. Der Clou daran: Stellt das Unternehmen für den Ausscheidenden einen neuen Arbeitnehmer ein, kann es sich die Zuschläge in Höhe von bis zu 20 Prozent des Teilzeitlohns von der Bundesagentur für Arbeit (BA) erstatten lassen. Darüber hinaus muss der Arbeitgeber für die freiwillig gezahlten Aufschläge keine Steuern und Sozialbeiträge abführen. Auf diese Weise wird jeder vierte deutsche Altersteilzeitler von der BA gefördert.

Eigentlich soll diese Regelung Ende 2009 auslaufen. Denn wegen der steigenden Lebenserwartung sollen die Deutschen künftig möglichst bis 67 arbeiten und eben nicht vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden, der von immer weniger Beitragszahlern finanziert werden muss.

Doch in ihrem jüngsten Entschluss verlangt das SPD-Präsidium einstimmig, die Förderung bis 2015 zu verlängern. Während die Union den Vorstoß als Frühverrentungspraxis strikt ablehnt, findet er bei den Gewerkschaften Applaus: "Das SPD-Modell stellt angesichts der hohen Belastungen am Arbeitsplatz ein akzeptables Ausstiegsmodell dar", lobt Berthold Huber, Vorsitzender der IG Metall. Seine Gewerkschaft versucht seit Wochen in zähen Verhandlungen durchzusetzen, dass die Altersteilzeit in der Metallindustrie selbst dann noch gilt, wenn die gesetzliche Regelung 2009 ausläuft.

Etwa sieben Kilometer südlich von Mauros Baustelle, im Frankfurter Stadtteil Niederrad, wohnt Rolf Ohmayer. Wie Mauro hat auch er seinen Job eine kleine Ewigkeit gemacht: Vor 45 Jahren fing er in der Filiale der Frankfurter Sparkasse in Niederrad als Lehrling an und arbeitete sich zum Geschäftsstellenleiter hoch. "Und der kommt in so einem Stadtteil gleich nach dem Pfarrer - so sehr vertrauen die Leute einem", sagt Ohmayer und lacht verlegen.

Das Blockmodell

Heute, mit 61 Jahren, befindet er sich in Altersteilzeit, für die sein Unternehmen bei der BA Förderung beantragt hat. Offiziell ist Ohmayer zwar noch Angestellter der Sparkasse, doch abgesehen von den eigenen Konten kümmert er sich nur noch um die Finanzen des Niederrader Heimatmuseums, für das er seit 26 Jahren ehrenamtlich die Kasse verwaltet. Ohmayer hat das getan, was 90 Prozent aller deutschen Altersteilzeitler tun: Er hat das Blockmodell gewählt. Dabei hat er die erste Hälfte der Altersteilzeit bei verringertem Gehalt durchgearbeitet und genießt nun in der zweiten, sogenannten passiven Hälfte, de facto bereits seinen Ruhestand.

Mit einem "gleitenden Übergang" hat das wenig zu tun, doch als Vollbremsung empfindet der Ex-Banker das Karriereende nicht: Zweimal in der Woche kümmert er sich um Museumskasse und -garten, mittwochs geht er mit seiner Frau schwimmen, und oft ist das Ehepaar auf Reisen. "Ich langweile mich nicht", sagt Ohmayer. "Es ist schön, wenn man seinen Lebensabend so verbringen kann, wie man sich das wünscht." Wer ihn kennenlernt, kann nicht anders: Man gönnt dem sympathischen Ohmayer seinen schönen Ruhestand. Nach seiner schweren Herz-OP vor drei Jahren hätte er auch kaum weiterhin bis zu 60 Stunden pro Woche im Büro verbringen können. Man würde es selbst wohl nicht anders machen.

Eine andere Frage aber ist, ob Herr Ohmayer auf die staatliche Förderung seiner Teilzeit wirklich angewiesen ist. Erfahrene Führungskräfte wie Ohmayer, heißt es bei der Sparkasse, könnten mit einem Monatsverdienst um die 4000 Euro rechnen - netto, versteht sich, und das 14-mal im Jahr. Genug Geld also, um fürs Alter vorzusorgen. Und damit die Einbußen am Lebensabend nicht zu heftig ausfallen, schießt die Sparkassen-Pensionskasse noch kräftig was zur gesetzlichen Rente dazu.

Sozial gerecht ist die alte Regelung nicht

Das Problem der SPD ist, dass Herr Ohmayer kein Einzelfall ist. Laut einer Studie der Deutschen Rentenversicherung profitieren vor allem Besserverdienende von den staatlichen Hilfen. So betrug das letzte beitragspflichtige Jahresentgelt eines westdeutschen männlichen Altersteilzeitlers im Untersuchungszeitraum 43.100 Euro. Das Durchschnittseinkommen eines westdeutschen Arbeitnehmers dagegen belief sich währenddessen nur auf 29.200 Euro.

Rund die Hälfte aller Altersteilzeitler haben in typischen Bürojobs gearbeitet. Die von den Sozialdemokraten viel zitierten Knochenjobs wie Dachdecker oder Fließbandarbeiter sind eher selten vertreten. Am beliebtesten ist der vorzeitige Ausstieg im Bereich "Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung" mit 14.482 geförderten Altersteilzeitstellen, dann folgen "Gesundheits-,Veterinärund Sozialwesen" mit 10.622 Stellen und Maschinenbau mit 7202 Stellen. Auf Platz vier liegt das Kreditgewerbe mit 6734 Stellen.

Altersteilzeit hat also offenbar nur wenig mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Es geht in der Regel um Besitzstandswahrung für Leute, die im Alter sowieso keine finanzielle Not fürchten müssen. Auf 1,5 Milliarden Euro schätzt die BA die Summe, die sie in diesem Jahr den Unternehmen erstatten wird. Und weil nur auf 50 Prozent des ursprünglichen Gehalts Steuern und Sozialversicherungsbeiträge - mit Ausnahme der Rentenversicherungsbeiträge - entrichtet werden müssen, dürften der Kranken- und Pflegeversicherung jährlich etwa 400 Millionen Euro entgehen. So hat es zumindest der Deutsche Industrie- und Handelskammertag ausgerechnet.

"Wir wollen Platz machen für Jüngere"

"Als Instrument zur Personalumstrukturierung hat sich die Altersteilszeit zwar durchgesetzt", sagt Jochen Pimpertz, Sozialexperte am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. "Aber insgesamt halte ich sie für unsozial. Alle zahlen, obwohl nur eine bestimmte Gruppe profitiert." Kurt Beck sage zwar: "Wir wollen Platz machen für Jüngere." Wegen der Förderung werde aber niemand zusätzlich einen Job finden, so Pimpertz: "In mehr als der Hälfte aller Förderfälle werden Auszubildende eingestellt, die meist sowieso übernommen werden."

Inzwischen haben offenbar manche Genossen gemerkt, dass Altersteilzeit allein nicht glücklich macht. Die bisherigen Vorschläge seiner Partei reichten nicht aus, räumte SPD-Fraktionschef Peter Struck jüngst ein. Deshalb "werden wir gemeinsam mit Arbeitsminister Scholz nun Änderungen bei der Erwerbsminderungsrente prüfen". Beschäftigte, die aus Gesundheitsgründen nicht mehr oder nicht mehr voll arbeiten können, sollten leichter und mit weniger Abschlägen in den Genuss dieser Rente kommen.

Doch ausgerechnet das SPD-geführte Arbeitsministerium widersprach umgehend den Überlegungen Strucks: Die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre "war und bleibt richtig", ließ Minister Olaf Scholz erklären. Es gebe im Ministerium "keine Überlegungen, an der Erwerbsminderungsrente etwas zu ändern". Sieht so aus, als ob Mauro für eine ausreichende Rente noch lange aufs Dach steigen muss.

print

PRODUKTE & TIPPS