Grossbritannien London lockt

Etwa 600 000 Polen sind in den vergangenen zwei Jahren zum Jobben nach England gekommen. Und die Briten finden es gut.

Sogar die Queen kommt nicht mehr ohne sie aus. In ihrem Palast im schottischen Balmoral arbeiten "mehrere Bürger osteuropäischer Staaten", wie ein Palastsprecher bestätigt. Sie wurden angestellt, nachdem Buckingham Palace mehrmals per Anzeige neue Hauswirtschafterinnen und Butler-Lehrlinge suchte, aber niemanden fand. Die neuen königlichen Angestellten sind Teil der "größten Immigrationswelle in der britischen Geschichte", wie der Direktor für Migrationsforschung am University College London, John Salt, sagt. Seit Mai 2004 haben sich 400 000 Polen als Angestellte in Großbritannien registriert, zählt man auch die Selbstständigen, sollen 600 000 eingewandert sein.

In London sprechen inzwischen fast alle Kellner polnisch, Supermärkte führen polnisches Essen von Pirogi bis zum Borschtsch, Banken preisen ein Konto für Migranten an, und der polnische Bierimport ist um 1000 Prozent gestiegen. Die größte Pub-Kette im Land schenkt inzwischen auch polnisches Tyskie-Bier aus.

Kaufkraft einer Stadt dazugewonnen

Ökonomen rechnen vor, dass England mit einem Schlag die Kaufkraft einer Stadt wie Liverpool dazugewonnen hat: Umgerechnet fast sechs Milliarden Euro sollen die Polen jährlich im Land lassen. 97 Prozent haben sofort nach ihrer Ankunft einen Job gefunden. Die meisten sind jung und haben einen höheren Schulabschluss oder eine Ausbildung. Allein 5000 Ärzte sind in den vergangenen zwei Jahren eingewandert, ebenso Tausende Krankenschwestern. Im Finanzdistrikt Londons arbeiten Hunderte polnische Anwälte und Manager. Handwerker machen jedoch den größten Teil der Migranten aus. Sie werden in Großbritannien dringend gesucht: Die Vereinigung der Bauindustrie schätzt, dass sie bis 2010 jedes Jahr 87 000 neue Arbeiter brauchen wird.

Und anders als in Deutschland laufen die englischen Gewerkschaften nicht Sturm gegen die neuen Mitbewerber: "Wir haben keinerlei Hinweise, dass die Ankömmlinge aus Polen und anderen EU-Staaten unsere Mitglieder den Job kosten." Die Gewerkschaften werben lieber unter den neuen Arbeitern - die Transport-Union hat schon 10 000 polnische Neu-Mitglieder gewonnen, und der erste gemeinsame Streik polnischer und englischer Gepäckträger am Flughafen Luton für einen höheren Stundenlohn war erfolgreich.

Nichts geht ohne Englisch

Die wachsende Konkurrenz bekommen allerdings viele britische Muslime zu spüren. Schon vor der Einwanderungswelle hatten junge Muslime Schwierigkeiten, mit schlechten oder gar keinen Schulabschlüssen den Weg in den Arbeitsmarkt zu finden. Jetzt müssen sie sich gegen besser ausgebildete Osteuropäer durchsetzen.

Der Markt für Hilfsarbeiter-Jobs ist besonders umkämpft; wer kein Englisch spricht, verliert. Malgorzata Málak arbeitet für die polnische Hilfsorganisation "Barka" und betreut zurzeit bis zu 200 obdachlose Polen auf den Straßen in Westminster. Immer wieder trifft sie Landsleute, die für Unterkunft, Jobvermittlung und die Reise nach England viel Geld an dubiose Agenturen in Polen gezahlt haben - und dann hilflos am Victoria-Bahnhof stehen, weil die versprochenen Vermittler nicht auftauchen.

Gnadenlose Ausbeute

Andere Agenturen beuten die Neuankömmlinge gnadenlos aus, so Alastair Murray vom Kirchen-Netzwerk "Housing Justice": "Es gibt Arbeitgeber, die ihre Angestellten zu Suppenküchen fahren, wo sie dann mittags essen sollen. Andere bringen die Leute zu zehnt in einem Zimmer unter und fordern dafür bis zu 100 Euro Miete pro Person in der Woche." Wer nicht zahlt, landet auf der Straße. Geld vom Staat gibt es nicht. Erst, wenn ein Angestellter zwölf Monate in die Sozialversicherung eingezahlt hat, kann er Hilfe beantragen.

76 Prozent der Briten sind dagegen, auch Rumänen und Bulgaren frei zur Arbeitssuche nach Großbritannien einreisen zu lassen. Die Angst vor einer zweiten Einwandererwelle ist groß. 2004 hatte die Regierung Blair die freie Einreise damit begründet, es seien sowieso nicht mehr als 13.000 Osteuropäer zu erwarten.

Rückhol-Aktion gestartet

Innenminister John Reid hat auf die Ängste bereits reagiert: Die Immigration aus den neuen EU-Anwärterstaaten "müsse sorgfältig gemanagt werden". In Polen dagegen spüren die Regionen inzwischen den Verlust von über 1,4 Millionen Landsleuten: Der Bürgermeister von Breslau, polnisch Wroclaw, hat die Werbekampagne "Wroc-loves you" in englisch-polnischen Zeitungen gestartet, um seine Auswanderer nach Polen zurückzuholen. Aber das wird schwer. Ein ausgebildeter Anästhesist verdient in Großbritannien wenigstens 6100 Euro im Monat. In Polen sind es 300 Euro.

print

PRODUKTE & TIPPS