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Job-Kolumne Jeder redet von New Work. Aber was ist, wenn ich einfach nur meinen Job machen will?

Wenn agiles Arbeiten überfordert
Agiles Arbeiten und New Work sollen Mitarbeitern mehr Freiräume geben. Aber einige sind von der neuen Freiheit überfordert.
© skynesher / Getty Images
Hinter dem Begriff New Work verbirgt sich mehr Freiheit, Verantwortung und Gestaltungsspielraum für Mitarbeiter – was manche erfreut, andere jedoch überfordert. Job-Coach Ragnhild Struss verrät, was agiles Arbeiten bedeutet.

Ich habe das Gefühl, heute wird der Job mit allen möglichen Erwartungen überfrachtet: Man muss sich selbst verwirklichen, kreativ sein und ständig auf sich ändernde Bedingungen reagieren. Homeoffice, Feedback-Schleifen, Kursänderungen. Kann ich nicht einfach normal zur Arbeit gehen und meine Aufgaben erledigen – ohne irgendwelchen Schnickschnack?

So sehr Sie es nicht mehr hören können, so wahr ist es: Durch Digitalisierung und immer rasantere Technologie-Entwicklung befindet sich unsere Arbeitswelt in einem grundlegenden Wandel – weg von starren Strukturen, steilen Hierarchien und standardisierten Arbeitsprozessen, hin zu mehr Flexibilität, Eigenverantwortung und verschwimmenden Grenzen zwischen Beruf und Privatleben. Es ist absolut verständlich, dass die damit einhergehenden neuen Arbeitsbedingungen und ihre diffusen Anforderungen bei Ihnen für Verunsicherung sorgen können. Aber sicher kann ich Ihnen einen großen Teil des Überforderungsgefühls nehmen, denn genau betrachtet werden Sie in den neuen Gestaltungsmöglichkeiten viele positive Chancen für sich sehen können. Nehmen wir zunächst die Begriffe „New Work“ und „agiles Arbeiten“ unter die Lupe. 

Ragnhild Struss, 41, hilft Menschen dabei, ihre innere Stimme zur Autorität zu machen. In ihrem Unternehmen "Struss & Claussen Personal Development" entwickelt sie Karrierewege, die nicht zwangsweise "nach oben" führen, sondern zu sich selbst – ob in der Kfz-Werkstatt oder im Konzern. Mit Toni Knows hat sie eine Web-Applikation auf den Markt gebracht, die Abiturient*innen auf Basis einer fundierten Persönlichkeitsanalyse passgenaue Studien- und Berufsempfehlungen bietet.
Ragnhild Struss, 41, hilft Menschen dabei, ihre innere Stimme zur Autorität zu machen. In ihrem Unternehmen "Struss & Claussen Personal Development" entwickelt sie Karrierewege, die nicht zwangsweise "nach oben" führen, sondern zu sich selbst – ob in der Kfz-Werkstatt oder im Konzern. Mit Toni Knows hat sie eine Web-Applikation auf den Markt gebracht, die Abiturient*innen auf Basis einer fundierten Persönlichkeitsanalyse passgenaue Studien- und Berufsempfehlungen bietet.
© Florian Janssen / Hersteller

New Work – was bedeutet das eigentlich?

Der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann prägte den Begriff New Work, im Deutschen Neue Arbeit, als Sammelbegriff für zukunftsweisende und sinnstiftende Arbeit. Durch die Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft werden klassische Arbeitsstrukturen und Nine-to-Five-Jobs immer weniger zeitgemäß. Beim New-Work-Konzept – das nicht nur als Beschreibung bereits eingetretener Veränderungen, sondern auch als anzustrebendes Ideal fungiert – stehen Selbstständigkeit, (Handlungs-)Freiheit, Selbstverwirklichung und Teilhabe an der Gemeinschaft als zentrale Werte im Fokus.

Ganz konkret bedeutet das in der Praxis, Mitarbeitern mehr Freiheit zu lassen, sowohl in der beruflichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit als auch bei der Entscheidung über Arbeitsorte und -zeiten: Arbeit aus dem Homeoffice oder von einem anderen Ort aus wird dank digitaler Kommunikationsmöglichkeiten problemlos möglich. Zudem bieten Coworking Spaces Raum für inspirierenden Austausch. Unter das Stichwort Vertrauensarbeit fallen flexible Arbeitszeitmodelle, bei denen Angestellte bis zu einem gewissen Grad selbst über Zeitpunkt und Menge ihrer Arbeitsstunden entscheiden und eher projektbezogen arbeiten. Abgerundet wird der Ansatz durch moderne Führung: Vorgesetzte begegnen ihrem Team eher coachend und auf Augenhöhe, lassen ihm viel Entscheidungsspielraum und leben außerdem oft einen gelockerten Dresscode vor. 

Agiles Arbeiten als Reaktion auf veränderliche Bedingungen

Als eine Entwicklung, die bestens zu den Anforderungen des New-Work-Begriffs passt, kann das sogenannte Agile Arbeiten aufgefasst werden: Was 2001 mit dem "Agilen Manifest" im Umfeld der Software-Entwicklung begann, um bei komplexen Projekten schnell auf Veränderungen eingehen zu können, bezieht sich nun auf eine dynamische Arbeitsstrukturierung in vielen verschiedenen Berufszweigen. Immer kürzere Innovations- und Produktzyklen stellen alle Unternehmen vor die Herausforderung, sich ständig weiterentwickeln und dynamisch anpassen zu müssen.

Dies gelingt vor allem, wenn die Verantwortung weg vom Management hin zu den Projekt-Teams übertragen wird, was nur noch das absolute Mindestmaß an Bürokratie notwendig macht.

Beim agilen Arbeiten wird das eigene Handeln regelmäßig mit übergeordneten Zielen und Visionen abgeglichen und im Verlauf angepasst, im besten Falle für jeden Mitarbeiter verständlich und motivierend. Im Zentrum stehen ein reger Austausch und Transparenz im Team: Kollegen halten sich täglich darüber auf dem Laufenden, woran sie gerade arbeiten. Regelmäßige Feedback-Schleifen auch während eines Projekts bieten die Möglichkeit, den Kurs immer wieder zu korrigieren und die Arbeit zu optimieren. Häufig kommen dabei die agilen Management-Frameworks Scrum und Kanban zum Einsatz, mit deren Hilfe Projekte und Prozesse effizient gesteuert werden können. 

Schön und gut, aber ist das für jeden geeignet?

Einige Menschen blühen auf beim Gestaltungsspielraum, dem regelmäßigen Austausch und der Abwechslung, die die neuen Arbeitsmodelle mit sich bringen: Besonders extravertierte, flexible Menschen mit hoher Motivation und Lust auf Eigenverantwortung profitieren auf Anhieb von New Work und agilem Arbeiten. Sie genießen das ausgiebige Teambuilding, können sich entfalten, Dinge selbst bestimmen und sind zudem noch frei in der Umsetzung ihrer Work-Life-Balance. Moderne Workspaces und inspirierende Kommunikation mit anderen regen ihre Kreativität an. Wiederholtes Feedback betrachten sie als willkommene Chance zur ständigen Selbstoptimierung. 

Aber andere fühlen sich von so viel Freiheit überfordert. Menschen, die gerne nach einem genauen Plan vorgehen und in einer einmal erarbeiteten Struktur Sicherheit finden, können schnell genervt sein von den wiederholten Richtungswechseln, von denen das agile Arbeiten meist geprägt ist. Introvertierte oder schüchterne Menschen können sich ebenfalls unwohl fühlen: Wenn der Fokus auf intensivem Austausch im Team und sehr vielen Feedbackschleifen liegt, wird die eigene Arbeit immer wieder bewertet – was einigen ein Graus ist. Die offenen, oft kreativ gestalteten neuen Arbeitsräume, die viele positiv anregen, können hochsensible Menschen mit starkem Ruhebedürfnis überstimulieren oder ablenken.

Die Arbeitsbedingungen an der eigenen Persönlichkeit ausrichten

Trotz der möglichen Unterschiede in der ersten Reaktion auf New-Work-Modelle kann man nicht pauschal sagen, agiles Arbeiten sei nur etwas für bestimmte Typen. Denn im Zentrum von "New Work" steht ein Job, der wirklich zur eigenen Persönlichkeit passt, so zumindest hat es ihr Begründer beabsichtigt. Es beginnt damit, sich selbst in allen Facetten möglichst gut zu kennen: Wer bin ich, was motiviert mich, welche Umgebung brauche ich, um effizient zu arbeiten? Welche Werte liegen mir am Herzen, was kann ich besser als andere und was bremst mich aus? Am liebsten nach Regeln oder in Ruhe zu arbeiten kann auch "New Work" sein – eben in dem Sinne, dass man weiß, was man selbst braucht, um im Job erfüllt zu sein. Und egal, ob in innovativen oder althergebrachten Strukturen: Die Arbeit sollte immer vor allem zur eigenen Persönlichkeit passen.

Ist in Ihrem Unternehmen gerade der Wechsel auf agiles Arbeiten im Gange, erarbeiten Sie mit Ihren Vorgesetzten, unter welchen Umständen Sie am besten performen können. Homeoffice zum Beispiel kommt Menschen entgegen, die gerne alleine und in Ruhe arbeiten oder aus anderen Gründen wie großer räumlicher Distanz zum Arbeitsplatz nicht ins Büro kommen können. Wer gerne Beruf und Privates strikt trennt und deshalb lieber im Büro sitzt, muss diese Möglichkeit nicht nutzen. Allmorgendliche Teammeetings, bei denen jeder kurz angibt, woran er arbeitet, sind für Sie womöglich nicht relevant, falls Ihr Aufgabenbereich sich nur auf wenig Unterschiedliches erstreckt. Vielleicht können Sie nach Absprache nur einmal in der Woche an einem solchen Termin teilnehmen. Klopfen Sie auf diese Weise verschiedene Maßnahmen daraufhin ab, inwiefern sie im Einklang mit Ihrer Leistungsfähigkeit stehen, und fischen Sie sich die Möglichkeiten heraus, die Sie in Ihrer Arbeitsweise am meisten unterstützen. So können Sie die neue Art der Arbeit bestens für sich nutzbar machen. 

Chance zur Erweiterung der Comfort Zone

Erlauben Sie mir zum Schluss, Ihre Comfort Zone noch ein bisschen mehr herauszufordern: Die Idee von New Work beruht auf dem Prinzip der Eigenverantwortung. Lassen Sie also nicht zu, zum Opfer der Umstände zu werden, sondern drehen Sie den Spieß gedanklich um und sorgen Sie für die selbstbestimmte Gestaltung Ihrer Arbeitsbedingungen. New Work bedeutet, dass Sie Ihren Job so gestalten dürfen, wie er optimal zu Ihnen passt! Schaffen Sie sich also Arbeitsbedingungen, die Ihre Motivation, Ihren Freiraum und somit Ihre Zufriedenheit erhöhen. Womöglich zwingen Sie die Veränderungen zum Verlassen Ihrer bisherigen Denkweisen und wirken deshalb erst einmal anstrengend oder beängstigend. Geben Sie sich Zeit und beobachten Sie, wie Sie in die neue Arbeitsweise hineinwachsen – in der für Sie passenden Geschwindigkeit und in Absprache mit Ihren Vorgesetzten. Haben Sie jedoch nach einer Weile immer noch das Gefühl, unter diesen Bedingungen nicht leistungsstark arbeiten zu können, dann halten Sie nach einem anderen Job Ausschau, der mehr auf Ihre persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist.

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