An der Börse herrscht Katerstimmung. Der Auswahlindex der Wachstumsbörse, der Nemax 50, dümpelt um die 1.000 Punkte-Marke herum, die einmal seine Ausgangsbasis war. Das ist Lichtjahre von seinem Rekordwert von 9.694 Punkten entfernt. »Die Stimmung ist mies, aber das ist ein guter Anlass zur Neubesinnung«, meint Christian Strenger, Mitglied der Börsensachverständigenkommission und Aufsichtsrat der Deutsche Bank-Fondstochter DWS Investment.
Stärkere Branchenvermarktung
»Die Deutsche Börse sollte stärker einzelne Branchen vermarkten - Biotech und Seniorenheim passen nicht zusammen«, kritisiert Strenger. In diese Richtung denkt offenbar auch Rainer Riess, bei der Börse für den Neuen Markt verantwortlich. Biotechnologie, erneuerbare Energien und die Nanotechnologie will Riess an der Wachstumsbörse stärker etablieren. Ihnen gilt besondere Aufmerksamkeit bei der Suche nach neuen Börsenkandidaten, kündigte Riess im »Handelsblatt« an.
Kaum Pläne für Börsengang
Börsendebütanten sind derzeit aber kaum zu finden. Laut einer Umfrage bekennen sich derzeit nur 36 deutsche Unternehmen zu Börsenplänen für dieses und nächstes Jahr. Bei einer ähnlichen Umfrage hatten sich 2000 noch mehr als 500 Firmen gemeldet. Seit Juli 2001 ist keiner AG mehr der Sprung an den Neuen Markt gelungen. Zuletzt scheiterte das spanische Porno-Unternehmen Private Media.
Veränderte Bedingungen
Die desolate Lage schreckt nicht nur Anleger ab: »Der Anreiz für Unternehmen, an den Neuen Markt zu gehen, ist momentan sehr gering«, sagt der Vorstandschef der Bertrandt AG, Dietmar Bichler. Der Automobilzulieferer war neben Mobilcom das erste Unternehmen an der Wachstumsbörse. »Unter den Bedingungen von 1997 würden wir wieder an den Neuen Markt gehen, aber heute würden wir Alternativen prüfen.«
Dickes Ende kommt noch
Die scharfe Auslese geht derweil weiter und verschont auch nicht den Auswahlindex Nemax 50. Der Glasfasernetzbetreiber Carrier 1 ist pleite ebenso wie die ehemaligen Anlegerlieblinge Brokat oder Biodata. Und das dicke Ende kommt bei den Insolvenzen noch, schätzt der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), Ulrich Hocker.
Erste Penny Stocks gesichtet
D.Logistics und der IT-Dienstleister Heyde stecken tief in Sanierungsarbeiten. Mit Heyde beherbergt der Nemax 50 sogar einen Penny Stock. So heißen Billigaktien, die weniger als ein Euro kosten und deren Börsenwert 20 Millionen Euro unterschreitet. Bleibt es in den kommenden Monaten dabei, greifen für Heyde die Ausschlussregeln der Börse für den Neuen Markt.
Umstrittene Rauswurf-Regel
Mit strengeren Regeln für Quartalsberichte, der Meldepflicht für Wertpapiergeschäfte des Managements und mit den Rauswurfregeln versucht die Börse, im Wachstumssegment auszumisten. Allerdings ist juristisch ungeklärt, ob die Börse die Ausschlussregeln einseitig einführen durfte. »Das ist unter Fachjuristen heiß diskutiert«, sagt Klaus Härle, Richter am Oberlandesgericht Frankfurt. Etwa zwei Dutzend Unternehmen droht die Verbannung aus dem Neuen Markt.
'Fantasiewerte' fallen raus
Die Auslese hat nach Einschätzung der Finanzbranche auch ihr Gutes. »Die Fantasiewerte fallen raus und werden durch Qualität ersetzt«, argumentiert der Aktienstratege von West LB Panmure, Andreas Hürkamp. Der Prozess braucht Zeit. »Erst Ende 2003 wird aus dem Nemax 50 wieder ein Qualitätsindex«. Strenger empfiehlt deshalb, »die Börse sollte aus dem Nemax 50 die 30 besten Werte in einen Nemax 30 zur Betonung der Qualität abbilden.«
Ständige Auslese
Auch die Deutsche Börse zeigt sich von der Auslese nicht beeindruckt. Die hat es auch an der US-Technologiebörse Nasdaq, dem Vorbild für den Neuen Markt gegeben, argumentiert eine Sprecherin. »Von den Firmen, die Anfang der 90er Jahre an der Nasdaq notierten, sind über 80 Prozent vom Kurszettel verschwunden durch Insolvenzen, Übernahmen oder einen Ausschluss«.
Yasmin Osman