Die Ricciardi-Dynastie Die große Kreditkrise des Jahres 1924

Von Tobias Bayer
Die Mitglieder der Ricciardi-Familie waren die Wall-Street-Bankiers des Mittelalters. Die Dynastie finanzierte Edward I. - und geriet plötzlich mächtig in Schieflage. Drei Wissenschaftler haben erstaunliche Parallelen zwischen dieser Familiengeschichte und der aktuellen Finanzkrise entdeckt.

März 2008. Ein historisches Ereignis. Das Wall-Street-Haus Bear Stearns kämpft verzweifelt um die Existenz. Kreditgeber und Hedge-Fonds ziehen Kapital ab. Die Liquidität wird knapp. Die Geldbeschaffung wird dadurch erschwert, dass ein Großteil der Vermögenswerte in der Bilanz illiquide Subprime-Hypothekenanlagen sind. Schließlich springt JP Morgan ein und übernimmt den Konkurrenten mithilfe der New Yorker Fed.

Ein einmaliges Ereignis? Die Wissenschaftler Adrian Bell, Chris Brooks und Tony Moore von der Henley Business School können das getrost verneinen. Sie gingen in einer Studie weit in die Geschichte zurück und fanden Parallelen - im Jahr 1294. "Die Finanzkrise in diesem Jahr ähnelt stark der jetzigen Situation. In ihr spielten auch Subprime-Schuldner, Liquiditätsengpässe und Bank-Runs eine Rolle", schreiben die drei Forscher. "Wenn uns die Geschichte auch nicht mit einem Instrumentenkasten versorgen kann, der uns jetzt hilft, dann können wir immerhin die aktuellen Ereignisse in einen breiteren Kontext rücken."

Plötzlich gab es keine Darlehen mehr

Im Zentrum der Analyse stehen der englische König Edward I. und seine Banker, der Ricciardi-Clan aus dem norditalienischen Lucca. Die Ricciardis schossen dem König große Summen vor. Der Monarch räumte ihnen dafür im Gegenzug das Recht ein, die Steuern auf Wollexporte einzutreiben. Außerdem verwaltete die toskanische Familie die Steuer des Papstes. Um kurzfristig an Geld zu kommen, unterhielen die Finanziers ein enges Beziehungsnetz mit anderen Handelshäusern, grob vergleichbar dem heutigen Interbankenmarkt.

Anfang der 90er-Jahre des 13. Jahrhunderts bekam das System Risse. Der Papst zog einen Großteil seiner Einlagen zurück, zudem besteuerte der französische König die in seinem Land lebenden Italiener. Beides entzog dem Finanzsystem wichtige Liquidität. Existenzbedrohend wurde es für die Ricciardis, als auch Edward I. überraschend Geld forderte, um seinen Krieg gegen die Franzosen zu finanzieren. Obwohl die Ricciardis als solide finanziert galten, war ihr Vermögen langfristig gebunden. Das erwies sich als fatal, da andere Handelshäuser keine Darlehen mehr gewährten. Am Ende entzog der König den Ricciardis das Recht, die Steuern einzutreiben, und trieb die Bankerdynastie in den Ruin.

Kurzsichtiger König

In der heutigen Sprache ausgedrückt: Die Ricciardis finanzierten langfristige Verbindlichkeiten kurzfristig, unterlagen also einem "Maturity-Mismatch". Gleichzeitig fror der Interbankenmarkt ein, weil Papst und die Könige Englands sowie Frankreichs Kapital zurückforderten. Die Zitate der Ricciardis, die die drei Forscher auffanden, erinnern stark an die Aussagen des Bear-Stearns-Management nach dem Notverkauf: "Das Geld ist einfach verschwunden. Jeder Gläubiger wandte sich an uns und wollte ausbezahlt werden. Deswegen waren wir überall knapp." An anderer Stelle heißt es: "Niemand will uns Geld leihen."

Neben historischen Parallelen zeigen Bell, Brooks und Moore auf, warum es sinnvoll ist, Banken zu retten. Der Kollaps der Ricciardis führte dazu, dass Edward I. sich viel teurer refinanzieren musste. Geldleiher stellten ihm Zinsen in Höhe von 40 bis 80 Prozent in Rechnung. "Wenn man heute die Banken in gleichem Maße bestrafen würde, würde das die Kreditklemme verschärfen. Am Ende wären die Folgen für die Wirtschaft noch gravierender", fassen die Wissenschaftler zusammen.

FTD

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