Nach zwei Jahren moderater Tarifpolitik haben sich die Gewerkschaften im Super-Tarifjahr 2002 vom Kurs der Lohnzurückhaltung verabschiedet. »Geld, Geld und noch mal Geld«, lautete die von der IG Metall ausgegebene Devise. Damit waren im Wahljahr in allen Branchen konfliktreiche Auseinandersetzungen vorprogrammiert. In der Metall- und Elektroindustrie, am Bau und im Einzelhandel konnten die Abschlüsse nur mit Streiks durchgesetzt werden. Auch bei der letzten großen Tarifrunde dieses Jahres im Öffentlichen Dienst gilt eine friedliche Lösung als unwahrscheinlich.
Die Ausgangslage für die erste komplette Lohn- und Gehaltsrunde seit zwei Jahren war denkbar schwierig. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 befand sich die Wirtschaft weltweit auf Talfahrt. Bis dahin hatten viele Unternehmen allerdings glänzend verdient, während die Arbeitnehmer Reallohnverluste hinnehmen mussten. Die Erwartungen bei den Beschäftigten waren deshalb hoch. Die Arbeitgeber hofften dagegen wegen des Wachstumseinbruchs weiter auf Mäßigung und drohten andernfalls mit dem Abbau von Arbeitsplätzen. Ihr Versuch, die Gewerkschaften im »Bündnis für Arbeit« weiter auf Lohnzurückhaltung zu verpflichten, scheiterte jedoch kläglich.
Gewerkschaften wollen »spürbar mehr Geld«
Mit der ersten Forderung von 6,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt für die 3,6 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie legte die IG Metall die Latte für die gesamte Tarifrunde hoch. Die neue Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nahm das Signal etwa für die Druckindustrie auf, die IG BCE blieb mit ihrer Forderung von 5,5 Prozent für die westdeutsche Chemieindustrie etwas darunter, die IG BAU konnte angesichts der Dauerkrise am Bau nicht mehr als 4,5 Prozent verlangen. Alle Gewerkschaften wollten aber »spürbar mehr Geld« in die Taschen der Arbeitnehmer bringen, um die Massenkaufkraft zu stärken und die Binnennachfrage anzukurbeln.
3,3 Prozent in der Chemiebranche
Zusätzlich erschwert wurde die Tarifrunde durch Sonderprobleme in verschiedenen Branchen. In der Metall- und Elektroindustrie wurde auch noch über die Einführung eines gemeinsamen Entgelts für Arbeiter und Angestellte (ERA) verhandelt. In der Bauwirtschaft musste der gesamte Rahmentarifvertrag nach der Kündigung durch die Arbeitgeber neu verhandelt werden. Und im Bankgewerbe zog die von den Arbeitgebern verlangte Einführung eines variablen Vergütungssystems die Verhandlungen in die Länge. Die erfolgreiche Lösung der Probleme brachte echte Tarif-Reformen: Das »Jahrhundertwerk« ERA bei den Metallern, die Einführung eines zweiten Mindestlohns für Facharbeiter am Bau und die Möglichkeit zur ertragsabhängigen Auszahlung des Weihnachtsgeldes in der Chemie.
Der erste Lohnabschluss 2002 gelang erneut der Chemie. Die IG BCE setzte - auch in Erwartung eines baldigen Aufschwungs - in zügigen Verhandlungen 3,3 Prozent mehr Entgelt für 12 Monate durch und schlug damit den Pflock ein. Die IG Metall brauchte gut einen Monat länger und den neuartigen »Flexi-Streik«, bis sie in einem ähnlichen Volumen abschließen konnte. Andere Branchen wie Papier und Druck, Versicherungen und Einzelhandel folgten ebenfalls mit einer 3 vor dem Komma. Die durchschnittlichen Tariferhöhungen in diesem Jahr werden nach Berechnungen des gewerkschaftsnahen WSI-Tarifarchivs bei maximal 2,9 Prozent liegen. Damit wurde der neutrale Verteilungsspielraum aus Preissteigerung und Produktivitätszuwachs wieder voll ausgeschöpft.
Tarifeabschlüsse aus den Frühjahr gelobt
»Erstmals seit Jahren gab es wieder eine aktive Lohnrunde«, bilanziert der WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck. Auch der zunächst abgelehnte Abschluss von Tarifverträgen mit langen Laufzeiten sei für die Gewerkschaften im Nachhinein positiv gewesen. »Heute würden die Abschlüsse nicht mehr so aussehen wie im Frühjahr«, meint Bispinck mit Blick auf das weiterhin nur geringe Wirtschaftswachstum. Nach Ansicht von IG-Metall-Vize Jürgen Peters erweisen sich die diesjährigen Tarifabschlüsse »in einer zunehmend labiler werdenden Konjunkturlage noch als eine der wenigen Stützen«. Sie hätten das weitere Absinken der Einkommen verhindert.
Sozialabgaben schmälern Netto-Entgelt
»Der Konsumeffekt war nicht so berauschend«, hält der Tarifexperte des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, Hagen Lesch, dieser Auffassung entgegen. Stattdessen seien die Arbeitsplätze durch die gestiegenen Kosten für die Unternehmen unsicherer und die Arbeitnehmer mit ihren Ausgaben vorsichtiger geworden. Zudem komme wegen der steigenden Sozialabgaben netto bei den Beschäftigten nicht mehr viel von der Einkommenserhöhung an. »Beschäftigungsfreundlich waren die Tarifabschlüsse jedenfalls nicht«, stellt Lesch fest und plädiert für eine Rückkehr zu einer längerfristigen moderaten Tarifpolitik.
Als erste Branche wird die Chemie den Reigen der Tarifverhandlungen 2003 eröffnen und ihre Vorreiterrolle zementieren. Zwar hat der IG-BCE-Vorstand keine konkrete Forderung verabschiedet, aber mit dem Hinweis auf 1,6 Prozent Teuerung und 3 Prozent Produktivitätsfortschritt in der Chemieindustrie einen Korridor abgesteckt. In der Metall- und Elektroindustrie stehen erst 2004 wieder Lohnverhandlungen an, so dass die IG Metall im kommenden Jahr als »Tariflokomotive« ausfällt. Auf ihrer Agenda steht aber die in der Gewerkschaft heftig umstrittene Differenzierung des Flächentarifvertrags, damit die unterschiedliche Ertragslage der Unternehmen stärker berücksichtigt werden kann.