Interview "Es ging Deutschland zu lange zu gut"

Wenn die deutsche Wirtschaft lahmt, zieht sie die exportabhängigen EU-Länder mit in die Tiefe. Der niederländische Notenbankpräsident Nout Wellink sieht die Flaute bei den Nachbarn daher mit Sorge.

Eine lahmende deutsche Wirtschaft zieht die EU-Länder, die gewohnheitsgemäß viel nach Deutschland exportieren, mit in die Tiefe. Der niederländische Notenbankpräsident Nout Wellink sieht die Flaute bei den Nachbarn daher mit Sorge.

Im Prinzip schon. Abgesehen davon, dass die Niederlande mit ihrem Poldermodell ein kleines Wirtschaftswunder geschaffen haben, ist der Zustand der deutschen Ökonomie traditionell ausschlaggebend für die niederländische. Weil die Bundesrepublik schon längere Zeit am Tropf hängt, fangen die Niederländer an zu kränkeln.

Das viel gelobte Polderrezept wirkt nicht mehr?

Der Erfolg war zum größten Teil hausgemacht. Er wurde fast nur von einer wachsenden Inlandsnachfrage bestimmt, die nun nachlässt. Normalerweise ist der Export der Motor der niederländischen Wirtschaft. 63% des Bruttosozialprodukts geht ins Ausland. Diese Ausfuhr steht unter Druck.

Stürzt Deutschland Holland in die Krise?

Das will ich nicht direkt behaupten. Wir spüren Gegenwind. Die Zahlen sprechen für sich. Deutschland ist mit 30% Anteil die größte Volkswirtschaft Europas. Ein Viertel von dem, was die Niederländer weltweit verkaufen, geht an die Bundesrepublik. Null Wachstum dort ist teuflisch gering. Das wirft uns zurück.

Was bedeutet das?

Wenn die Lieferungen schrumpfen, hat das sofort einschneidende Folgen: Absatzverluste in zig Millionen Höhe. Andere EU-Länder tragen dieselbe Bürde. Weil sie alle stark von Deutschland abhängig sind, zieht die Bundesrepublik den ganzen EU-Block wirtschaftlich nach unten, statt Zugpferd zu sein.

Wie konnte es dazu kommen?

Die Politik hat nicht rechtzeitig die Notwendigkeit von übergreifenden Reformen eingesehen. Zu sehr und zu lange war man einseitig mit der Wiedervereinigung beschäftigt, zu wenig und zu spät mit der Nachbesserung der Strukturen für die Zukunft.

Die Probleme sind inzwischen klar erkannt, die Regierung kommt trotzdem nicht voran. Alle Signale stehen auf Rot. Kanzler Gerhard Schröder musste ein Machtwort sprechen. Opposition und SPD-Abweichler aber bremsen.

Peinlich. Ich wundere mich über diese Haltung und diese Zähflüssigkeit. Zum Teil hat sie eine institutionelle Ursache. Dazu will ich mich nicht äußern. Doch die Menschen, die sich jetzt sowohl innerhalb der Koalition als auch bei der Opposition querlegen, müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie den erneuerungsprozess lähmen. Es geht bei Agenda 2010 schon längst nicht mehr nur um eine rein deutsche Angelegenheit. Ganz Europa leidet unter der Schwerfälligkeit von Berlin. Und bei der CDU/CSU sollte man zugeben, dass die Parteien, wenn sie jetzt zusammen regieren würden, ähnliche Maßnahmen ergreifen müssten. Die Notlage ist doch klar.

Problem Nr. 1: die Altersrente?

Ich denke, dass man in Deutschland zu wenig realisiert, wie hart die Vergreisung ab 2030 zuschlägt. Das System in der heutigen Form kann die gewaltige Zunahme an Rentnern nicht verkraften. Es gibt nur eine unvermeidliche Lösung: sparen für die Altersrente, ab sofort und einschneidender als bis jetzt geplant oder vereinbart ist. Dazu müssten flankierende Maßnahmen ergriffen werden, wie Verlängerung der Lebensarbeitszeit, stärkere Immigration und, ich traue es mich kaum zu sagen, vielleicht sogar höhere Geburtenraten. Deutschland braucht mehr Menschen, die die Rente tragen.

Große europäische Versicherungskonzerne wie Aegon in den Niederlanden wollen errechnet haben, dass Deutschland, wenn nichts geschieht, ab 2030 Hunderte von Milliarden Euro auf dem Kapitalmarkt zusätzlich leihen müsste, nur um die Renten aufrecht zu erhalten. Die Staatskasse sei dann leer. Ein Horrorszenario?

Das darf nie passieren. Noch kann man vorbeugen. Verzögerungen wären verheerend. Viele Politiker sehen das auch ein. Allerdings vermisse ich bei ihnen das Gefühl der Dringlichkeit. Es ging Deutschland zu lange zu gut.

Wie realistisch ist die Angst vieler Niederländer, auch von Finanzexperten, dass Deutschland ihre Renten gefährdet? Sie befürchten, dass die Europäische Zentralbank , falls Deutschland in Not gerät, die Eurodruckmaschine laufen lässt und eine Rieseninflation verursacht.

Die Europäische Zentralbank wird diese Geldvermehrung absolut nicht zulassen. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Inflation zu zügeln. Das hat seinen Preis. In diesem Fall käme die Wirtschaft Deutschlands unter starken Druck. Für die Regierung gäbe es nur eine Lösung: Drastische Sparmaßnahmen. Die EZB hält den Geldhahn in dieser Situation garantiert dicht. In diesem Zusammenhang sage ich auch: Die Unabhängigkeit der EZB ist von größter Bedeutung.

Einerseits bedroht die deutsche Rentenproblematik langfristig die Niederlande. Aber auch die Überschreitung der 3%-Schuldenhürde des Stabilitätspaktes in Deutschland und Frankreich ist Den Haag ein Dorn im Auge.

Die deutsche Haltung zu diesem Thema beunruhigen mich und den niederländischen Finanzminister Gerrit Zalm sehr. Berlin, damals Bonn, war der Erfinder dieser Haushaltsregelung. Logo. Deutschland war ja immer ein konsequenter Hüter einer harten Währung. Darauf haben wir uns verlassen. Nun will Berlin mehr Spielraum. Wir wehren uns klipp und klar dagegen. Mit gutem Recht.

Wieso diese harte Haltung? Sind die Niederlande für Berlin und Paris nicht eher eine brüllende Maus?

Sicher nicht. Andere Länder unterstützen uns. Was ist dieser Vertrag denn wert, wenn jeder Partner im Bündnis von den Regeln abweicht? Wenn die großen Länder ein Abkommen x-beliebig brechen, unterminieren sie die Disziplin. Die kleinen Staaten sollen die Paragraphen tapfer schlucken? Deutschland und Frankreich setzten die Glaubwürdigkeit der EU auf’s Spiel. Das schadet dem Euro. Ich hoffe In dieser Angelegenheit auf die Vernunft der deutschen Bürger. Sie fordern eine stabile Währung. Sie sollten darauf achten, dass ihre Regierung nicht zu leichtfertig handelt.

Was können die Niederlande tun, um Deutschland und Frankreich zurück zu pfeifen?

Druck ausüben. Druck, Druck, Druck.

Hören die Großen überhaupt auf die kleinen Niederlande?

So unbedeutend sind wir gar nicht. Obwohl nicht jeder deutsche Politiker die Größe Hollands richtig einschätzt. Auf mehreren Gebieten gehören wir zur Weltspitze, sicher beim Finanzwesen. Pro Kopf sind wir der größte Nettozahler der EU. Im Übrigen geht es nicht um die Frage des Umfangs, sondern um die Argumentation und den Inhalt des Unionsvertrages.

Ist Berlin sich eigentlich bewusst, wie abhängig die Niederlande von der deutschen Wirtschaftspolitik sind?

Das weiß ich nicht. Ich stelle jedoch fest, dass die Kenntnisse der Fakten eher ein wenig dürftig sind. Entscheidender finde ich es, dass ich irgendwie spüre, dass Berliner Politiker aus der Nachkriegszeit selbst nicht ahnen, wie groß und wichtig Deutschland ist. Sie neigen zu einer Art von Alleingang. In der EU ist das unerwünscht. Eine gewisse Solidarität muss es geben. Die ältere Generation hat die EU mit aufgebaut, aus einer moralischen Pflicht heraus. Die Jüngeren gehen ein bisschen auf Distanz zu Europa. Aber gerade dieses wichtigste Land Europa’s kann die EU stärken oder schwächen. Die EU hängt von Deutschland ab. Das erfordert ein breiteres Verantwortungsbewusstsein, da kann man nicht nur auf den eigenen Nabel starren.

Interview: Albert Eikenaar