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Massentierhaltung Das kurze Leben von Ferkel 0146

Sechs Monate lang haben stern-Reporter ein Mastschwein begleitet. Von der Geburt im Stall bis zum Tod im Schlachthof - und darüber hinaus: Die Geschichte eines Schnitzels.
Von Nikola Sellmair

Das Messer blitzt, die Schweine schrein,
Man muß sie halt benutzen,
Denn jeder denkt: Wozu das Schwein,
Wenn wir es nicht verputzen?

(Wilhelm Busch)

Blut tropft auf den Gitterrost. Der Bauer greift tief rein in die Sau - kommt da noch was? Auf einmal gucken kleine Klauen hervor, der Bauer zieht. "Hoffentlich bin ich nicht zu spät, das sah so blau aus", sagt er.

Heute ist Ferkeltag im Stall von Bauer Pulvermann. Alle Sauen werden zur selben Zeit besamt, deshalb "ferkeln" sie auch zur selben Zeit. Drei Monate, drei Wochen und drei Tage dauert die Schwangerschaft, "So'n Schwein funktioniert wie ein Uhrwerk", sagt Dieter Pulvermann.

Die Sau schnauft schwer. Ein tiefes langes Grunzen, dann glitscht es aus ihr heraus, es quiekt. Das schleimige Ferkelkind verheddert sich in der Nabelschnur und fällt auf die Schnauze. Kurz öffnet es seine schwarzblauen Augen, dann stakst es los - da ist die Zitze. Schauer laufen ihm über den blassrosa Rücken, aber es saugt, kräftig und entschieden.

Die Geschichte eines Schnitzels

Das ist das Schwein, das wir sechs Monate begleiten werden, bis zum Tod. Wir nennen es nicht "Grunzi", bestimmt nicht "Babe". Keine Sentimentalitäten bitte. Denn dies ist die Geschichte eines Schnitzels. Geboren, um zu sterben. Produziert wie eine Alufelge oder eine Steckdose. Ein Gebrauchsgegenstand, und so liest sich auch sein Name: 0146. Das ist die Nummer des Stalls. 1,5 Kilo wiegt das Ferkel nach der Geburt. Noch 118,5 Kilo bis zum Schlachtgewicht. Ein Schweineleben.

Am ersten Morgen kommt der Ringelschwanz ab. Das Kupiereisen dampft, es riecht nach verbranntem Fleisch. Ferkel 0146 quietscht schrill und zappelt mit den Beinen. Anschließend werden die Eckzähne mit einer rotierenden Maschine abgeschliffen. Damit die Tiere sich nicht gegenseitig verletzen, sagt Valentina. Die Russlanddeutsche ist die einzige Angestellte auf dem Hof, zuständig für 4000 Tiere: 250 Säue und 3750 Mastschweine. Immer weniger Menschen, immer mehr Schweine. "Nur so bin ich konkurrenzfähig", sagt Bauer Pulvermann. Als der diplomierte Agraringenieur den Hof 1990 von seinen Eltern übernahm, lebten dort 800 Schweine.

Heute ist Pulvermanns Mastbetrieb in der Nähe von Bad Segeberg einer der größeren in Schleswig-Holstein. Vorbei an Feldern und Wiesen, erreicht man das alte Bauernhaus aus rotem Ziegelstein. Eine Lindenallee führt zu den Scheunen dahinter. "Achtung, wertvoller Tierbestand" steht auf dem Schild an der Tür. Wer hier hineinwill, muss seine Straßenschuhe gegen Gummistiefel eintauschen und sich einen weißen Arbeitsanzug überziehen, wegen der Seuchengefahr. Drinnen ist es vorbei mit der ländlichen Idylle: Mit moderner Technik wird der Stall beheizt und belüftet, das Futter rinnt automatisch in die Tröge. Schweine drängen sich in engen Boxen unter Kunstlicht. Die Luft ist warm und stickig, es riecht nach Kot und Gülle. Die Ammoniakschwaden aus dem Schweine- Urin schädigen die Lungen der Tiere. Auch Menschen lassen sie röchelnd husten, noch Stunden, nachdem sie den Stall verlassen haben.

In Kasachstan hatten die Säue Namen

Valentina versucht, mit einer stark parfümierten Körperlotion ihren Stallgeruch zu übertünchen. Ab und zu landen Fliegen auf ihrem tipptopp geschminkten Gesicht. Schon in ihrer alten Heimat Kasachstan hat sie mit Schweinen gearbeitet. "Die Säue waren auf der Weide und hatten richtige Namen", erzählt sie. Allerdings seien dort auch mehr Ferkel von ihren Müttern erdrückt worden. Im modernen deutschen Hightechstall steht die Muttersau während der Geburt und die Wochen danach eingeklemmt zwischen den beiden Bügeln eines Metallgerüstes. Umdrehen kann sie sich darin nicht, hinlegen nur mit Mühe.

Schwein 0146 und seine zehn Geschwister drängen sich schreiend um ihre Mutter. Sie nuckeln, dann legen sie sich dicht an dicht, Speck an Speck, nebeneinander. Ferkel 0146 klettert über die Rücken der anderen und lässt sich in die Mitte des Fleischbergs plumpsen. Im Schlaf wackelt es mit den Beinen, kaut und schmatzt.

Vier Tage später bekommt es seine Marke ins Ohr gestanzt. Sie ist hellblau, die Nummer 0146 handgeschrieben, damit wir es besser erkennen. Das Ferkel hat Glück, die Marke hängt im rechten Ohr, und das bedeutet: Ferkel 0146 ist eine Sau und darf zurück zur Mutter, während seine Brüder heute kastriert werden. Eberfleisch schmeckt manchmal streng, deshalb die schmerzhafte Prozedur in deutschen Ställen. Valentina hält ein laut quiekendes Ferkel an den Füßen hoch, schneidet mit einem Mini-Skalpell den Hodensack auf und trennt die Samenleiter durch. Die Hoden lässt sie in einen Eimer fallen.

Mit zwei Wochen sehen sie zum letzten Mal die Mutter

Zwei Wochen später ist 0146 schon viel dicker. "Das wird ein Atomschwein", ruft Bauer Pulvermann. Er streicht dem Ferkel über den Nacken. Die Schweinchenhaut ist glatt und warm, mit feinen hellen Borsten. "Fühlt sich schön an", sagt der Bauer. Frecher sind die Ferkel jetzt, sie springen übereinander und stupsen mit ihren kleinen klebrigen Rüsseln gegen die große Steckdosennase der Muttersau. Heute sehen sie ihre Mutter zum letzten Mal. Der Bauer fährt mit einer Schubkarre durch die Gänge - wer groß genug ist, den packt er am Hinterbein und karrt ihn weg.

Zweimal in seinem kurzen Leben wird Ferkel 0146 für ein paar Minuten das Tageslicht sehen - immer dann, wenn es in einen neuen, größeren Maststall umzieht. Heute ist es das erste Mal so weit. Es ist ein nebliger, saukalter Tag. Der Bauer wirft 122 Ferkel in einen offenen Anhänger, sie zittern in der feuchten Luft, einige japsen vor Aufregung. "Vorsicht, das Herz", ruft Valentina. Pulvermann fährt den Anhänger zur Rampe, die zum Ferkelaufzuchtstall führt. "So, ihr Kleinen" - Pulvermann schnalzt mit der Zunge, treibt die Ferkel die Rampe hoch, auf die große Waage am Eingang. Ferkel 0146 ist schwerer als die anderen Schweine. Sieben Kilo wiegt es jetzt. Noch 113 Kilo bis zum Kotelett. Im neuen Stall haben 1400 Ferkel Platz. 35 Tiere passen in eine Box, macht mindestens 0,4 Quadratmeter pro Tier, wie vom Gesetzgeber verlangt. Außerdem sind noch zwei verschiedene "Spielmöglichkeiten" Vorschrift. In der Box von Ferkel 0146 sind es eine lange Plastikröhre und Eisenketten, die von der Wand baumeln. Die Ferkel rollen die Plastikröhre durch die Box, nuckeln am Wasserspender und berüsseln die Schlitze im neuen, grünen Gummiboden. Kot und Urin plumpsen durch die Schlitze in den Güllekanal unter dem Stall.

Plötzlich schießt brauner Brei in den Futtertrog, die Ferkel erschrecken. Eins wagt sich vor, dann stürzen sich alle quiekend auf die Mahlzeit. Die kleinen Schweine bekommen Soja, Molke und Getreide. 0146 frisst wenig, läuft grunzend umher und schnüffelt in allen Ecken. "Das vermisst seine Mutter", sagt der Bauer.

Auch die Sau 94426, gezüchtet auf die Eigenschaften Stressresistenz, guter Knochenbau, Fruchtbarkeit und Mütterlichkeit, läuft unruhig in ihrer Box hin und her, nachdem ihre Ferkel plötzlich weg sind. Fünf Tage später wird sie neu besamt - im "Eros-Center". So nennt der Bauer den Stall für die Sauen, die gerade "rauschen", also paarungsbereit sind. Im Eros- Center arbeitet ein Animier-Eber. Er darf schnuppern, mehr nicht. "Künstlich ist besser", sagt Pulvermann. Er setzt sich rittlings auf die Sau, schubbert ihr Hinterteil, "das stimuliert", und führt die Kanüle mit Samensekret in die Scheide ein.

Rüsten für den Schweinemarkt der Zukunft

Wenn sich Pulvermann über die neuesten Spermacocktails informieren will, fährt er nach Hannover, zur Messe Euro-Tier, Halle "Schwein". Polnische, französische und dänische Anbieter preisen dort ihr tiefgekühltes Schweinesperma an. Nebenan treffen sich auf der "International Pig Management Conference" Züchter und Banker, um sich für den Schweinemarkt der Zukunft zu rüsten. Die Bauern hier sind keine Dorfdimpfl, sondern Manager. Auf Englisch unterhalten sie sich über den "demand-driven world market".

Ein Finanzfachmann der holländischen Rabobank erklärt die Globalisierung des Schweinemarktes: Die ganze Welt isst immer mehr Fleisch - eigentlich gut für Deutschland, den größten "Schweineproduzenten" in Europa. Aber die hiesigen Betriebe sind klein im Vergleich zu den riesigen Ferkelfabriken in Dänemark oder den USA. Große dänische und holländische Konzerne wie Danish Crown oder Vion kaufen sich in Deutschland ein. Auch Länder wie Brasilien und China drängen auf den Fleischmarkt: Brasilien baut Soja als Futtermittel für Schweine an und rodet dafür seine Wälder. Die Chinesen produzieren schon jetzt die Hälfte des Schweinefleischs weltweit - zwar noch nicht so effizient wie die Deutschen, aber das sei nur eine Frage der Zeit, sagt der Banker aus Holland. Bauer Pulvermann und seine Kollegen schauen besorgt.

In den Messehallen drängen sich tatsächlich jede Menge Chinesen. Sie bestaunen den "Rausche-Detektor" ("verfehlt keine einzige rauschige Sau"), elektrische Fliegenklatschen und die "Sauenplaner"- Software, mit der man das Besamen der Sauen planen kann.

0146 ist nun ein Läufer

"Das Mastendprodukt", so der ökonomische Fachterminus für Ferkel 0146, wächst jetzt immer schneller. Mindestens ein halbes Kilo nimmt es jeden Tag zu. Es bekommt Pausbacken, sein Rücken wird immer länger. Mit drei Monaten wiegt es stolze 40 Kilogramm. Das Grunzen klingt nicht mehr hoch und schrill, sondern tief und gurgelnd: Ööööfff. 0146 ist kein Ferkel mehr, sondern ein "Läufer", so nennt man die halbstarken Schweine. Weil die Schweine so groß geworden sind, können sie sich in der Box kaum noch bewegen, dicht an dicht drängeln sie sich auf dem zugekoteten Gummiboden. "Schön ist das nicht, auch wenn es der Norm entspricht", sagt der Bauer, "aber ich muss in Fleischmenge pro Quadratmeter rechnen." Muss er wirklich? Einmal hat Bauer Pulvermann versucht auszubrechen: Er wollte umstellen auf Biohaltung, auf Direktvermarktung mit einem kleinen Hofladen, und ließ sich dazu ein Konzept von einer Schweine-Unternehmensberatung erstellen. Das Ergebnis: Es rechnet sich nicht. Sein Betrieb ist schon zu groß, Pulvermann hat zu viel Geld in Ställe und Technik investiert. Er hat nur die Wahl, entweder weiter auf Masse zu setzen oder pleite zu gehen.

Deshalb ist dies keine Skandalgeschichte, in der Bauer Pulvermann in die Pfanne gehauen werden soll. Sein Fleisch gammelt nicht und ist auch nicht hormonverseucht. Es ist einfach billig - und so wird es auch produziert. Pulvermann hat die stern-Reporter in seinen Stall gelassen, obwohl der Bauernverband warnte: Lassen Sie das, Sie können nur verlieren. Er hat die Türen aufgemacht, weil er weiß, dass er einen ordentlichen Job macht - im Rahmen des Systems. Pulvermann hat sich dieses System nicht ausgedacht, aber er trägt es mit - so wie die Banken, die Futtermittelkonzerne, die Lebensmittelketten und vor allem die Verbraucher, die immer billigeres Fleisch wollen. Der Druck, sagt Pulvermann, hört nie auf: "Ein Freund von mir ist Biobauer, der steht im Wettbewerb mit billigeren Biobauern aus dem Ausland." Und so verbietet sich Pulvermann seine Träume vom Landidyll, vom Bauernhof wie in alten Zeiten, wo die Schweine auf den Kartoffeläckern rüsselten.

Heute kommen Schwein 0146 und seine Altersgenossen vom Ferkelaufzuchtstall in den Maststall. Der Bauer klatscht ihnen auf den Rückenspeck und treibt sie mit großen Holzbrettern voran: "Hopp, hopp, im Schweinsgalopp!" Die Schweine zittern und pinkeln vor Kälte und Angst. Eins hat eine Stressattacke, steht nur da und schlottert am ganzen Körper. Vorsichtig und ohne lautes Rufen führt der Bauer es in den neuen Stall. Schwein 0146 trabt hinterher und beschnüffelt neugierig die neue Box. "So, mein dickes Mädchen", sagt Pulvermann und schließt die Tür. Die nächste Station wird der Schlachthof sein. Der Bauer tippt das Gewicht von Schwein 0146 in den Computer ein, der berechnet, wann Pulvermann den Lastwagen für den Transport zum Schlachthof bestellen muss. Noch zwei Monate bis zum Kotelett.

Sie ahnen ihren Tod

Der Lastwagen kommt im Morgengrauen. Um 4.00 Uhr weckt Bauer Pulvermann alle sechs Monate alten Tiere. Schweine sind schlau. Es heißt, sie würden ihren Tod ahnen. Schwein 0146 ahnt nichts. Freundlich und verspielt steht es in seiner Box, lässt sich zur Verladerampe treiben und zuckt nur kurz, als ihm der Fahrer des Lastwagens seine Nummer, die 0146, auf den Rücken stempelt. Der Transporter ist dreistöckig, 200 Schweine passen hinein. Ein Schwein wird aussortiert, weil es zu mager ist. Dann fährt der Lastwagen los.

Bauer Pulvermann bekommt für Schwein 0146 rund 130 Euro. Allein für das Futter gehen 85 Euro drauf: Weil der Weizenpreis steigt, wird es immer teurer. Auch der Schweinepreis bildet sich wöchentlich; wenn er unter 1,60 Euro pro Kilo fällt, wird es knapp für Bauer Pulvermann: "Wir hatten jetzt drei gute Jahre. Aber es werden immer mehr Mastställe gebaut, immer mehr Schweine produziert. Wenn das Angebot steigt, sinkt der Preis." Ein Leben nach dem Schweinezyklus: Dieter Pulvermann macht höchstens 14 Tage Urlaub im Jahr, er investiert und modernisiert. Die Kredite, die er für Stallrenovierungen aufgenommen hat, sind noch nicht abbezahlt. 25 Euro von den 130 Euro Erlös für Schwein 0146 zahlt er für die Stallbauten. Dazu kommen noch Sperma- und Energiekosten, der Tierarzt, die Versicherung gegen Tierseuchen, das Gehalt von Valentina, die Zahlungen für Transport und Schlachten. Im Frühjahr blieben Pulvermann noch bis zu zehn Euro Gewinn pro Schwein, derzeit macht er wegen der hohen Futterkosten 20 Euro Verlust.

Rund zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt von Mastschwein Nummer 0146 über Landstraßen bis zum niedersächsischen Dorf Luckau. Hier, im ehemaligen Zonenrandgebiet, steht inmitten von Äckern der Schlachthof Vogler. Der Betrieb hat sich auf Schweine spezialisiert und gehört zu den größten Schlachtereien in Deutschland. Alle sechs Sekunden stirbt hier ein Schwein. 500 Mitarbeiter kümmern sich ums korrekte Töten.

Früher hielt er sein Schwein im Garten

Der Viehtransporter hält vor einem der großen blauen Tore. Es dauert, bis er ausladen kann: Der Lastwagen vor ihm hat unterwegs eine Vollbremsung hingelegt, jetzt liegen vier Schweine verletzt auf der Rampe und müssen in Rollwagen zur Notschlachtung gefahren werden. Ein Schlachter schimpft: "Die sind so schwer verwundet, weil ihr Bauer sie mit billigen Brotabfällen füttert. Brotschweine wachsen schnell, aber ihre Knochen sind schwach." Der dicke Mann streichelt eine verletzte Sau. Früher hielt er sein eigenes Schwein im Garten, und, klar, so ein Tier, neun Monate lang mit Kartoffelschalen gefüttert, schmecke tausendmal besser als ein sechs Monate altes Industriemastschwein.

Die blauen Tore öffnen sich wieder, jetzt rennt Schwein 0146 die Rampe hoch, sein kupierter Schwanz wackelt. Es wird mit warmem Wasserregen besprenkelt, eine Art Wellness für Schweine, dann soll es sich im dämmerigen Ruheraum von den Strapazen der Fahrt erholen. Noch zwei Stunden bis zum Kotelett.

Um 11.30 Uhr läuft Schwein 0146 fröhlich und neugierig, wie es seine Art ist, in den Gang, der zu den Betäubungsgondeln führt. Je zwei Schweine drängen sich in die Kabine, die Türen schließen sich, der Fahrstuhl ruckelt abwärts, dem Tod entgegen. Ein kurzes Quieken, dann wirkt das Gas, das in die Gondeln strömt. Schwein 0146 verliert das Bewusstsein.

Das betäubte Tier bekommt eine Fußfessel

Anderthalb Minuten später fällt es aus der Gondel in eine Wanne. Hier unten befinden sich die Schlacht- und Zerlegeräume. Alles ist hell erleuchtet. Ein Schlachter packt Schwein 0146 und legt ihm eine Fußfessel an, an der das betäubte Tier hochgezogen und kopfüber an einem automatischen Schlachtband durch den Raum gezogen wird. Die Maschinen sind so laut, dass die Schlachter Ohrstöpsel tragen.

Blut und Wasser tropfen von der Decke. Der ganze Raum dampft. Schwein 0146 hat die Augen geschlossen, Speichel tropft aus seinem Mund. Jetzt zieht ein Schlachter das Schwein zu sich heran, rammt ein großes Messer in die Halsschlagader. Das herausquellende Blut wird mit einem Schlauch abgesaugt. Schwein 0146 ist tot.

Sein lebloser Leib muss erst durchs Wasser, dann durchs Feuer. In der Waschanlage wird das Schwein enthaart und abgespült. Ein Schwall Blut rauscht auf den gefliesten Boden. Dann wird der Tierkörper im lodernden Feuer des "Entkontaminierungsofens" abgebrüht. Es riecht nach angesengten Borsten. Keimfrei und mit bloßer Schwarte schwingt das Schwein zur nächsten Station: Männer schneiden die Augen raus, weg damit, zum Sondermüll.

In der nächsten Halle weiden Schlachter die Schweine aus. Ihre Gummihandschuhe reichen bis zum Ellenbogen, die Schürzen und die weißen Gummistiefel sind voller roter Spritzer. Die Innereien und Organe hängen sie an Haken. Leber, Lunge, Zunge von Schwein 0146 zockeln am Automatikband vorbei in den Kühlraum. Der Kroate Milos, ein großer hübscher Mann, singt schwermütige Volkslieder aus seiner Heimat und flirtet mit den Schlachterinnen, während er Schweinebäuche aufschlitzt und dampfende Därme entfernt. Die Frauen sind für die kleineren Organe zuständig, sie schneiden die Herzen heraus. Im Pausenraum lesen sie dann Bücher mit Titeln wie "Weg der Träume" oder "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran".

Nach der Kontrolle gibt es einen Stempel

Nummer 0146 wird jetzt von großen Zahnrädern in der Mitte durchgeschnitten, der Brustkorb knackt. Tierärzte untersuchen die Schweinehälften, nehmen Proben, die anschließend im Labor auf Antibiotika-Rückstände und Salmonellen untersucht werden, und stempeln das Schwein nach der Kontrolle ab. Dann kommen die Überreste von 0146 aus der heißen Schlachthalle in den eisigen Kühlraum. Dort sieht der Chef der Zerlegungsabteilung: Schwein 0146 war am Knöchel wund gelegen, es muss im Stall Schmerzen gehabt haben. Und die Schweinehälfte hat rote Striemen am Rücken: ein Zeichen, dass es Stress und Keilereien zwischen den Schweinen beim Transport gegeben hat. Ein Schweinebraten wird 0146 also nicht mehr: Die Kruste würde an den verwundeten Stellen dunkler, das mag der Verbraucher nicht. Beim Kotelett oder Schnitzel dagegen kommt die Schwarte ab, da wird dann nichts mehr zu sehen sein.

Am nächsten Morgen, nach 20 Stunden in der Kühlung, rollt der Kopf von Schwein 0146. Ein Schlachter schneidet ihn ab und schleudert ihn in eine Kiste. Ohren und Pfoten werden abgeknipst. Das Ohr mit der extra für Schwein 0146 handschriftlich markierten Marke liegt jetzt auf einem Berg anderer Ohren. Zusammen mit den Pfoten werden sie nach China exportiert, dort findet man sie leckerer als in Europa. Ein Drittel des Absatzes macht Vogler Fleisch im Ausland. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz. "Es gibt zu viele Schlachtbetriebe in Deutschland, wir müssen das Fleisch immer billiger anbieten", erzählt ein Schlachter. "Wir produzieren auch für Aldi und Lidl, aber da verdient man fast nix, so gnadenlos drücken die die Preise."

In der Zerlegung arbeiten nur Polen, 150 Männer. Bei zwölf Grad Kälte lösen sie Braten, Schnitzel und Steaks vom Schwein. Es ist Knochenarbeit, die Männer fieseln, schneiden, reißen am Fleisch. Ein paar stehen abseits und kümmern sich um die Bioschweine: Vogler Fleisch produziert nicht nur für große Ketten, sondern verarbeitet auch Biofleisch, das extra zerlegt und gelagert wird.

Auf einem Biohof hätte das Schwein die Sonne gesehen

Im Schlachthof sind alle Tiere gleich: Auch Bioschweine werden nicht totgestreichelt. Aber hatten sie vorher ein anderes, ein besseres Leben? Wie wäre es Ferkel 0146 auf einem Hof ergangen, der nach ökologischen Richtlinien arbeitet? Es hätte länger gelebt: acht statt sechs Monate. Es hätte kein synthetisch erzeugtes Eiweiß zu fressen bekommen, sondern Bohnen, und wäre deshalb langsamer gewachsen. Von seiner Mutter wäre es nicht nach drei, sondern nach sechs Wochen getrennt worden. Es hätte die Sonne gesehen, mit dem unversehrten Ringelschwanz gewackelt und seinen Geschwistern die intakten Eckzähne in die Ohren gehauen. Es hätte im Stroh wühlen und in der Erde suhlen dürfen. Auf der weichen Einstreu hätte es seine Gelenke nicht wund gelegen. Seine Brüder wären allerdings auch kastriert worden. Und der für Ökoschweine vorgeschriebene "Auslauf im Freien" hätte sich wahrscheinlich nicht auf einer idyllischen Aue abgespielt, sondern auf einem handtuchgroßen Wieslein - auch Biobauern müssen rechnen.

Am Ende, als Biokotelett, wäre es dann schweineteuer gewesen. Ökoschweinefleisch kostet fast doppelt so viel wie konventionelles. Das liegt an der aufwändigen Haltung - und daran, dass der Markt noch klein und schlecht organisiert ist. Mehr als 50 Millionen Schweine werden jedes Jahr in Deutschland geschlachtet, davon sind nicht einmal ein Prozent "Ökos". Einige Lebensmittelketten - Tegut oder Edeka Nord - nutzen ihre Vertriebsstrukturen, dort kostet Ökoschweinefleisch nur rund 25 Prozent mehr als konventionelles.

Schwein 0146 liegt jetzt säuberlich in Koteletts aufgeschnitten in einer roten Kunststoffbox, fertig zur Auslieferung. Am Montag wurde es geschlachtet, am Dienstag zerlegt, am Mittwoch ausgeliefert. Binnen 48 Stunden muss das Fleisch den Schlachthof verlassen und an die großen Lebensmittelketten geliefert werden, bei denen es dann eingeschweißt und in die Filialen transportiert wird.

Schwein im Angebot

Schwein 0146 ist schon vorbestellt: Eine Fleischerei im nahen Dolgow braucht frische Ware. Der Metzger schreibt die Angebote des Tages auf eine Tafel: Bockwurst, Schinkenspeck - und das Kotelett, für 4,39 das Kilo. "Meine Kunden gucken sehr auf den Preis", sagt der Metzger und drapiert die Koteletts in der Kühltheke.

Dort findet die Schlossherrin das Schwein. Inge Kohrs-Lichte, eine freundliche ältere Dame, bekommt heute Abend Besuch und ist zu ihrem Lieblingsmetzger gefahren. "Ich achte auf Frische und Qualität - und natürlich auf den Preis", sagt sie. Im Supermarkt würde sie nie ein Kotelett kaufen. Schwein 0146 - oder das, was von ihm übrig ist - wird eingepackt und fährt bald die Auffahrt von Schloss Kolborn hinauf. In der Küche wartet Lisa, die Haushälterin, in einer weißen Schürze. Nach alter Hausfrauensitte drischt sie mit dem Fleischklopfer auf die Koteletts ein, taucht sie in Ei, würzt und brät sie. Die Schlossherrin schält inzwischen Kartoffeln. "Die Kulturtechnik des Kochens geht leider verloren", sagt sie. "Ich hoffe, meine Enkelinnen werden sie noch bewahren."

Die Enkelinnen Julia und Lena, neun und elf Jahre alt, dazu eine Nachbarin, sind zum Abendessen eingeladen. Julia und Lena teilen sich ein Kotelett: "Das ist so riesig, das ist doch vom Dinosaurier, nicht vom Schwein." Die Mädchen kauen zufrieden. Im Kamin prasselt ein Feuer. Biedermeierstühle, Tafelsilber, gelbe Rosen, weißes Porzellan - Ferkel 0146 hat nicht stilvoll gelebt, aber es wird stilvoll verspeist.

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