Herr Müller, wann hatten Sie zuletzt Angst?
Daran kann mich gar nicht so richtig erinnern. Angst gehört nicht zu meinen wesentlichen Merkmalen.
Kann man ein angstfreier Mensch sein?
Weiß ich nicht, aber Angst ist zumindest ein schlechter Ratgeber.
Wenn man an die Börse schaut, scheinen Angst und Panik auch bei Aktienhändlern durchaus vorzukommen.
Natürlich. Leider werden In der Wirtschaft Urinstinkte generell unterschätzt. Es heißt zwar immer, Entscheidungen werden nur rational nach Faktenlage getroffen, aber das ist falsch. Hoffnung, Sympathien, Antipathien, Gier und eben auch Angst - all das spielt eine große Rolle. Vor allem an der Börse.
Wollen Sie sagen, Börsenkurse und damit das Wohl und Wehe von Unternehmen und Staaten hängen von den Launen der Händler ab?
Auch. An der Börse ist der Herdentrieb stark verbreitet. Man sieht das, wenn die Kurse unter Druck geraten: Am Anfang macht man sich nur wenig Sorgen, denkt sich: Das wird sich schon. Dann fällt der Kurs weiter und irgendwann kommt der Punkt, an dem es schmerzhaft wird. Richtig gute Händler sagen sich: Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen und steige aus.
Und die weniger guten?
Die bleiben stur und glauben, sie hätten Recht, nur der Markt irrt sich. Wenn die Verluste aber zu groß werden, kommt in ihnen echte Angst hoch: Die Angst, dass es viel des eigenen Geld kostet, oder die Angst, dass man am Abend zum Chef-Rapport muss. Diese Angst geht erst in Hilflosigkeit und dann in Panik und letztlich in kopflose Aktionen über. An der Börse ist das an der Tagesordnung, wie man an den erratischen Kursverläufen sieht.
Nach den Anschlägen vom 11. September stürzten die Aktienkurse ins Bodenlose - wie viel Angst und Panik war damals mit im Spiel?
Das war eine Situation, in der kein nüchternes Nachdenken mehr möglich war. Wir Händler hatten damals einen kleinen Fernseher auf dem Parkett in Frankfurt. Als die zweite Maschine in den Südturm flog, wussten wir alle, was das bedeutete. Jeder rannte an seinen Platz und schrie nur noch die neuesten Nachrichten in den Raum, damit alle auf dem gleichen Stand waren. Plötzlich kam eine Orderflut rein, wie ich sie noch nie erlebt habe; unvorstellbare Größenordnungen von Verkaufsaufträgen, die einfach nicht mehr kalkulierbar waren. Ich habe auch irgendwann aufgehört zu rechnen, sondern nur noch grob überschlagen, um welche Summen es eigentlich geht.
Warum wird in solchen Augenblicken der Handel nicht ausgesetzt?
Die Europäer hatten damals tatsächlich überlegt, die Börsen zu schließen. Nach einigen Beratungen wurde aber beschlossen, sie offen zu lassen. Denn zum einen wäre die Schließung genau das gewesen, was die Terroristen erreichen wollten und zum zweiten hätte sich ein Order-Stau aufgebaut, der bei Wiedereröffnung sämtliche Systeme zum Erliegen gebracht hätte. Also wurde beschlossen: Wir lassen die Tore auf und die Märkte sich abreagieren.
Haben die Ereignisse vom 11. September den Aktienhandel verändert?
Die Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre hat die Händler ein wenig abgestumpft. Beim ersten Irak-Krieg 1991 war die Stimmung schon im Vorfeld extrem angespannt, die Situation hat die Märkte über Monate paralysiert. Aber alles, was in jüngster Zeit passiert ist, die Kriege in Afghanistan und Irak, die Probleme im Nahen Osten, die Umstürze in Nordafrika, wurde beinahe schulterzuckend zur Kenntnis genommen, weil alle daraus gelernt haben: Die Welt geht trotzdem nicht unter.
Im Grunde ist es doch positiv, wenn Händler und Märkte Ruhe bewahren können.
Schon. Aber ist es wirklich wünschenswert, wenn sich Menschen erst an Krisen und Katastrophen gewöhnen müssen, um Ruhe bewahren? Ich muss immer an die Erzählungen meiner Oma aus dem Zweiten Weltkrieg denken: Wenn Fliegeralarm war, ist sie in den Luftschutzkeller gegangen und als die Angriffe vorbei waren, hat sie sich aufs Fahrrad gesetzt und ist Einkaufen gefahren. Was ihr und den anderen damals im Alltag geholfen hat, ist das Wissen darüber, was eigentlich passiert und warum. Erst Unwissenheit verursacht Angst.
Informationen sind heutzutage sehr leicht zugänglich. Dennoch haben viele Menschen Angst: die einen vor Terroristen, die anderen um ihr Geld.
Ja, aber viele Menschen verstehen trotzdem nicht, was passiert. Politiker erzählen mir hinter vorgehaltener Hand, man dürfe den Leuten nicht alles erzählen, weil man sie nicht zu sehr verunsichern wolle. Aber das ist falsch: Die Menschen brauchen so viele Informationen wie möglich, denn man kann ihnen viel mehr zutrauen, als mancher glaubt. Es ist doch so: Wenn sie in einen dunklen Wald gehen in dem es Wölfe gibt, dann bekommen sie bei jedem Rascheln im Unterholz Angst, bis sie irgendwann kopflos durch die Gegend rennen. Wenn sie den Wolf aber im Mondlicht erkennen, können sie Ihren Weg ruhig fortsetzen und zur Not auf den nächsten Baum klettern.
Fühlen Sie sich ausreichend informiert?
Ich vertraue grundsätzlich keinen Informationen, die ich nicht selbst überprüft habe. Mittlerweile wird so viel gelogen, ob in der Politik oder in den Medien - und immer wird als Grund genannt, dass es "der Sache" diene. Das erzählen mir Politiker ganz offen.
Die Politik spielt mit der Angst?
Ja, natürlich. Oft genug werden Ängste geschürt und sofort Gesetze präsentiert, um genau diese Ängste wieder zu vertreiben und den Bürger so in Sicherheit zu wiegen. Die Politik tut dann so, als wäre es ihr oder dem Staat möglich, für ein risikoloses Leben zu sorgen.
Gibt es das?
Nein, das ganze Leben ist ein Risiko. Denken sie daran, was alles im Straßenverkehr passieren kann. Hört deswegen jemand auf, Auto zu fahren? Natürlich nicht. Und zwar deshalb, weil jeder das Risiko halbwegs einschätzen kann.
Ist Risiko für Sie eher Chance oder Bedrohung?
Beides muss im richtigen Verhältnis zueinander stehen. An der Börse heißt es: Risiko und Rendite sind eineiige Zwillinge - es gibt sie nur zusammen. Ich versuche immer, beides in Einklang zu bringen. Ohne Risiko geht es nicht, aber es muss auch nicht immer die höchste Rendite sein. Beim Autofahren kann ich das Risiko am besten eindämmen, wenn ich gar nicht erst losfahre - aber nur weil man mobil sein will, muss ja nicht zwingend mit 200 km/h durch die Stadt fahren.
Täuscht der Eindruck, dass die viel gescholtenen Banker in letzter Zeit zu oft mit 200 durch die Stadt gefahren sind - sie also zu hohe Risiken eingegangen sind?
Nein, wobei die Risikobereitschaft immer phasenweise auftritt. Um die Jahrtausendwende etwa haben große Teile der Bevölkerung fröhlich am Neuen Markt mitgezockt, bis der irgendwann völlig zusammengebrochen ist. Da haben sehr viele Leute, sehr viel Geld verloren, es folgte der große Kater und dann eine sehr risikoaverse Phase. Aber irgendwann ist dann eben doch die Gier wieder da. Dieser Kreislauf wird wohl auch immer so bleiben.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten entweder in einer rein rationalen Handelswelt zu arbeiten oder in einer mit fehleranfälligen Menschen - für welche würden sie sich entscheiden?
Was wäre denn die Welt ohne Emotionen? Und ich liebe die Gefühle beim Handeln, die emotionalen Schwankungen, die ich ja auch selbst durch mache. Der Reiz liegt darin, all die Zweifel, Ängste, Hoffnungen und Sympathien die man hat, im richtigen Augenblick zuzulassen oder zu beherrschen. Das ist wie normalen Leben auch - die Börse ist nur dessen Spiegel.
Dirk Müller ...
Frank Rumpenhorst/DPA ... ist das Gesicht der Frankfurter Börse. Da sein Arbeitsplatz direkt unter der Chartanzeige lag, wurde er ein beliebtes Motiv für die Fotografen und bekam den Spitznamen "Mister Dax" verliehen.
Müller arbeitet weiterhin auf dem Börsenparkett, betreibt die Anleger-Seite "Cashkurs" und schreibt Bücher. Am 12. September erscheint sein Finanzratgeber "Cashkurs".