Gesundheitsreform "Zehn Prozent Zuzahlung für Behandlungskosten"

Die Gesundheitsreform hält nur wenige Jahre, meint der Stuttgarter CDU-Regierungschef Günther Oettinger. Er denkt schon an die nächste Reform - und eine private Pflegeversicherung

Herr Ministerpräsident, die Gesundheitsreform ist offenkundig missraten. Was tun? Aus Koalitionsräson daran festhalten - oder eine Generalrevision der Reform?
Ich bin sicher, der Gesetzentwurf im Herbst wird zeigen, dass wichtige Ziele erreichbar sind. Das erste Ziel: die Überschuldung der Krankenkassen zu verhindern. Das zweite: mit der einmaligen Erhöhung der Beiträge Stabilität für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erreichen.

Wie bitte? Sie halten die Gesundheitsreform für gelungen?


Sie wurde mit zu großen Erwartungen befrachtet. Es ist keine große Gesundheitsreform. Da haben Union und SPD sicher Fehler gemacht. Man hätte von vornherein von einem kleinen gemeinsamen Nenner sprechen sollen. Diese Reform wird drei bis fünf Jahre halten und dann beiden Koalitionsparteien eine grundlegende Neuordnung offenhalten.

Angetreten ist die Koalition mit dem Versprechen, das Gesundheitssystem für mindestens zehn Jahre zu sanieren. Die Beiträge sollten sinken - nun steigen sie, wie in der Rentenversicherung.
Unterm Strich, die Beitragssenkung in der Arbeitslosenversicherung eingerechnet, werden wir die Lohnnebenkosten immer noch unter 40 Prozent senken. Oberstes Ziel ist eben die Haushaltssanierung. Da sind wir auf gutem Wege. Ich halte es für die entscheidende Leistung der Großen Koalition, dass es auf einen Schlag geglückt ist, solide Haushalte in Bund und Ländern zu erreichen.

Und wie soll die nächste Gesundheitsreform in drei bis fünf Jahren aussehen?


Wir brauchen weit mehr marktwirtschaftliche Impulse im Gesundheitswesen. Der leistungsfähige Patient, der über ein ordentliches Einkommen oder Vermögen verfügt, sollte stärker als bisher Spitzenleistungen der Medizin auf dem Markt einkaufen, ohne Absicherung über die Krankenkasse. Das bedeutet höhere Eigenanteile. Und dort, wo der Bürger diese Eigenanteile nachweisbar nicht erbringen kann, müssen sie auf Antrag aus Sozialleistungen erstattet werden.

In welcher Größenordnung? Und wie stark sollen die Kassenbeiträge dann sinken?
Die Zuzahlungen sollten im Schnitt bei 10 Prozent der Behandlungskosten liegen. Wenn dann noch schrittweise Steuermittel für die Krankenkassen hinzukommen, können die Beiträge unter 13 Prozent sinken.

Wie hoch stellen Sie sich den Steueranteil an der Krankenversorgung vor?


Bis 2009 ist nur ein Einstieg im einstelligen Milliardenbereich möglich, der dann im nächsten Jahrzehnt in Stufen auf 12 bis 18 Milliarden Euro gesteigert werden kann.

Durch welche Steuern?


Eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer halte ich für nicht vorstellbar.

Andere Verbrauchsteuern, beispielsweise auf Alkohol und Tabak?


Über deren Erhöhung wird man sprechen können, aber sie bringen nicht so große Summen wie die Mehrwertsteuer.

Also höhere Einkommensteuern?
Nein. Ein Zuschlag auf die Lohn- und Einkommensteuer wäre Gift für die Konjunktur. Ich baue auf eine ordentliche wirtschaftliche Entwicklung, eine Wende auf dem Arbeitsmarkt und damit höhere Steuereinnahmen des Staates.

Wann sollte der Bund die Neuverschuldung auf null reduziert haben?


Ich rate der CDU/CSU dringend, dieses Ziel im Wahlprogramm für die nächste Legislaturperiode zu verankern.

2007 soll die defizitäre Pflegeversicherung reformiert werden. Was schlagen Sie vor?


Der Beitrag sollte auf dem derzeitigen Stand von 1,7 Prozent eingefroren werden. Nur auf die kinderlosen Arbeitnehmer kommt ein höherer Beitrag von 2,2 Prozent zu. Daneben muss 2008 als kapitalgedeckte zweite Säule eine private Pflichtversicherung eingeführt werden. Der Bürger hat die Wahl der Versicherungsgesellschaft, muss aber den Nachweis der Beitragszahlung erbringen. Die Prämie würde im ersten Jahr eher bei 6 als bei 12 Euro pro Person und Monat liegen. Sie muss dann so steigen, wie das Defizit in der Pflegeversicherung wächst.

Wollen Sie irgendwann ganz raus aus der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung?
Ja, aber das dauert 20 bis 30 Jahre. Dann haben wir die Vollfinanzierung durch private Versicherungen.

Warum schreiben Sie dann nicht auch die private Riester-Rente gesetzlich vor?


Ich schließe eine gesetzliche Verpflichtung nicht aus, würde sie aber bei sehr maßvollen Beiträgen auf junge Menschen beschränken, die neu in Arbeit kommen.

Schon nächstes Jahr?


Ja, das könnten wir gleich mitentscheiden, wenn die Rente mit 67 konkret beschlossen wird.

Wäre es nicht für die CDU an der Zeit, sich generell gegen weitere Beitragserhöhungen in den Sozialversicherungen festzulegen - und koste es auch die Koalition?


Bei der Rente wird eine derartige bindende Zusage nicht möglich sein. Aber ich bin zu der Aussage bereit, dass künftig in allen anderen Sozialsystemen Beitragssteigerungen tabu sind.

Die Eckpunkte der Gesundheitsreform sehen das aber nicht vor.
Ich gehe davon aus, dass es eine derartige bindende Erklärung der führenden Köpfe in der Großen Koalition geben wird.

Für den Herbst hat sich die Koalition weitere wichtige Reformen vorgenommen: Hartz IV, Kombilöhne. Was schlagen Sie vor?


Ich bin davon überzeugt, dass für Arbeitnehmer, insbesondere Berufsanfänger mit geringer Qualifikation und für Langzeitarbeitslose über 50 Jahren, ein Kombilohn sinnvoll ist. Ich würde ihn aber nicht flächendeckend und für jede Beschäftigung einsetzen. Dabei sollten wir auch die Regeln für die Zumutbarkeit von Arbeit verschärfen.

Welcher Lohn ist förderungswürdig?


Das sollte regional unterschiedlich sein. Die Agenturen für Arbeit vor Ort müssen vom Bund einen noch größeren Ermessensspielraum erhalten, den sie im Benehmen mit den Landesregierungen nutzen können. In Baden-Württemberg brauchen wir den Kombilohn eher für ältere Arbeitnehmer, weil die Chancen für junge Berufsanfänger besser sind. Die Große Koalition sollte aber auch beim Kündigungsschutz mehr Mut zu flexiblen Lösungen haben.

Nämlich?


Baden-Württemberg ist durch den Mittelstand geprägt, ein Land mit enorm vielen Beschäftigten in Kleinbetrieben. Trotz guter Konjunktur machen die aber Überstunden, lagern aus oder schaffen Arbeitsplätze außerhalb Deutschlands. Ich halte es daher für wichtig, für Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten die Kündigungsschutzregeln deutlich zu lockern.

Was soll bei Hartz IV reformiert werden?
Wir müssen dringend die Unklarheit bei den Kompetenzen von Bundesagentur für Arbeit und kommunalen Behörden beseitigen. Man kann fast sagen, egal wer, aber einer muss die operative Verantwortung übernehmen. Dabei müssen wir auch rasch klären, welchen Zuschuss die Kommunen für ihre Ausgaben vom Bund benötigen.

Und die Generalrevision hat keine Eile?


Die erscheint mir in acht Wochen nicht machbar. Ich glaube, dass die Regelsätze von Hartz IV in Ordnung sind. Aber wir haben zu viele Mitnahmeeffekte. Die so genannten Aufstocker, die ein niedriges Arbeitseinkommen durch Hartz IV aufbessern, sind ein Problem.

Möchten Sie das generell abschaffen?
Nein, aber deutlich verringern.

CDU-Generalsekretär Pofalla will, dass Kinder ihre arbeitslosen Eltern unterstützen. Was halten Sie davon?


Wenn man die Familie als die wichtigste Einheit gemeinsamer Verantwortung, als Wertegemeinschaft betrachtet, und das tut die Union, dann ist der Vorschlag überhaupt nicht abwegig, sondern sehr überlegenswert. Natürlich muss es Freigrenzen geben, sonst würden viele Kinder überfordert. Aber Kinder mit guter Ausbildung, hohem Einkommen oder Vermögen könnte man heranziehen.

Es gibt eine ausufernde Diskussion über den Zustand der Union und die Führungskraft der Kanzlerin. Bei der Gesundheitsreform war Angela Merkel keine führungsstarke Reformerin.


Führungsstärke ist in einer großen Koalition nicht so leicht darstellbar wie in einer kleinen. In der Großen Koalition heißt Führung vor allem kluge Moderation.

Wäre es eigentlich schade, wenn die Große Koalition vorzeitig platzt?
Ich bin dafür, dass man Verträge einhält. Die Regierung ist auf vier Jahre angelegt. Keine Seite hat das Recht zum Ausstieg.

Eben noch haben Sie erklärt, dass Führungskraft in einer kleinen Koalition eher darstellbar ist als in einer großen. Wie wäre es dann mit einer Jamaika-Koalition von Union, FDP und Grünen?


Der Prozess der Erholung und des Generationswechsels bei den Grünen ist noch längst nicht abgeschlossen. Deshalb rate ich der CDU dringend, alles zu tun, damit die Koalition mit der SPD bis 2009 hält, und keine Gedankenspiele mit einer Jamaika-Koalition anzustellen.

Ihr Kollege Jürgen Rüttgers fordert, die CDU müsse sich von Lebenslügen verabschieden und die Konsequenzen daraus ziehen, dass sie keine kapitalistische Partei sei.


Die Volkspartei CDU braucht auch ...

... Arbeiterführer wie Rüttgers ...
... die Gelassenheit, eine solche mahnende Stimme in die Meinungsbildung einzubeziehen. Aber Rüttgers liegt sowohl mit seiner Analyse als auch mit seinen Konsequenzen falsch. Wer in der Großen Koalition das Reformtempo drosselt, tut der CDU einen Tort an. Sie muss aufs Gaspedal treten - und selbst dann fährt die Koalition immer noch nicht schnell genug.

Angela Merkel scheint sich nicht zwischen Gas und Bremse entscheiden zu können.


Wenn sie als Kanzlerin den Bremser SPD auf dem Beifahrersitz hat, ist es ihr unbenommen, als CDU-Chefin klarzumachen, wie schnell sie eigentlich fahren möchte - und wohin.

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Interview: Hans-Ulrich Jörges, Hans Peter Schütz