Die gesetzliche Pflegeversicherung steckt in der Klemme: Mehr als 2,4 Millionen Menschen sind in Deutschland mittlerweile pflegebedürftig. Und es werden immer mehr. Dabei stehen der wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen immer weniger Einzahler gegenüber. Gleichzeitig wird die Gesellschaft immer älter – und immer mehr Menschen pflegebedürftig. Diese Entwicklung in Deutschland belastet die Pflegekassen, die sich mit stetig steigenden Mehrausgaben konfrontiert sehen.
Monatelang stritten FDP, CDU und CSU nun über eine Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung. Beschlossen hat die Koalition am Ende nur ein "Reförmchen" - mit einem leichten Beitragsanstieg ab 2013 und einer privaten Zusatzversicherung auf Freiwilligkeit. Aus Sicht von Kritikern ist aber ein kompletter Neuanfang nötig - ein "Paradigmenwechsel", wie der Vorsitzende des Deutschen Pflegerates Andreas Westerfellhaus sagt. Mit dem Beschluss wurde leider völlig außer Acht gelassen, dass es bei der Pflegeversicherung nicht nur finanzielle Probleme gibt. Denn das staatliche System hat gleich mehrere Konstruktionsfehler.
Fehler Nummer eins: Fast immer zu wenig
Das Geld aus der Pflegeversicherung richtet sich nach der jeweiligen Pflegestufe. Die Sätze decken aber oft bei weitem nicht die tatsächlich anfallenden Pflegekosten ab, das Bundesgesundheitsministerium spricht von einer "Teilkasko-Versicherung". Eine Heimbetreuung beispielsweise kostet im Schnitt etwa 3000 Euro monatlich - selbst in der Pflegestufe III gibt es aber gerade mal 1815 Euro (ab 2012: 1918 Euro). So muss der Pflegebedürftige noch aus eigener Tasche Geld für die Betreuung hinzuschießen. Das Sozialamt springt erst ein, wenn Haus und Hof mit Hypotheken belastet sind und die letzten Ersparnisse aufgebraucht sind. Lediglich eine eiserne Reserve gestattet der Staat dem Pflegebedürftigen noch. Im ärgsten Fall werden auch dessen Kinder und Enkelkinder zur Kasse gebeten.
Außerdem zahlt das Amt keinen Luxus - schlimmstenfalls muss man in eine preiswerte Wohnung umziehen. Es kann also durchaus sinnvoll sein, eine private Pflegezusatzversicherung abzuschließen, die dieses Risiko zumindest teilweise absichert.
Fehler Nummer zwei: Leistung per Katalog
Kritiker bemängeln, dass Leistungen nur noch nach Katalog abgerechnet werden. In jedem Bundesland handeln Anbieter und Pflegekassen separat ihre Sätze fürLeistungskomplexe wie Waschen, Nahrungsaufnahme und so weiter aus. Die sogenannte Waschung, zu der Tätigkeiten wie Kämmen oder Duschen gehören, darf beipielsweise in Duisburg etwa 15 bis 17 Euro kosten. Je nach Pflegestufe steht für solche elementaren Tätigkeiten mal mehr, mal weniger Zeit zur Verfügung.
Für das Pflegepersonal heißt das also: Es arbeitet gemäß Kosten und Zeit und nicht entsprechend der Bedürfnisse des Patienten. Ist das Budget erschöpft, müssen andere Dinge eben liegen bleiben, und der Pfleger hetzt zum nächsten "Klienten". Denn weil nicht abgerechnet werden kann, was nicht katalogisiert ist, bleibt kein Geld und keine Zeit für ein längeres Schwätzchen oder etwa einen Spaziergang - Dinge, die vielen Patienten meist mehr gut tun als die tägliche Medikamentendosis.
Nicht anders sieht es in den Heimen und Krankenhäusern aus. Auch hier dirigiert das Budget die Ausgestaltung der Pflege. Und weil der größte Kostenfaktor das Personal ist, wird daran immer häufiger gespart. Kein Wunder also, dass in Deutschland inzwischen akuter Notstand in der stationären Pflege herrscht.
Fehler Nummer drei: Demente fallen durch
Jeder Pflegebedürftige hat seine eigenen Ansprüche, jede Krankheit verlangt ihre eigene Behandlung. Diesen Anforderungen wird das aktuelle System nicht gerecht. Denn es schert alle Anwärter auf Pflegeleistungen über einen Kamm: Menschen werden in Pflegestufen eingeordnet. Und davon gibt es derzeit gerade einmal drei. Eventuell werden es mit der angepeilten Pflegereform mehr. Denn die Politik will endlich auch dem Bedarf der vielen Demenzkranken hierzulande gerecht werden und ihnen mehr Leistungen zusichern.
Diese große Gruppe war in der Mehrheit bislang durch das Raster der Pflegeversicherung gefallen, da Menschen mit Demenz zwar ständiger Aufsicht bedürfen - in der Regel aber noch in der Lage sind, Dinge wie Anziehen oder Zähneputzen selbst zu erledigen. Genau von solchen rein körperlichen Fähigkeiten aber hängt es derzeit ab, ob ein Mensch in die Pflegestufen I bis III eingeordnet wird. Dementen werden meist nur die sogenannten "Zusätzlichen Betreuungsleistungen bei eingeschränkter Alltagsleistung" (inoffizielle Bezeichnung: Pflegestufe 0) zugebilligt, für die maximal 200 Euro monatlich fließen.
Fehler Nummer vier: Pflegestufe per Blitz-Besuch
Die Entscheidung, in welche Pflegestufe ein Mensch einzuordnen ist, trifft der Medizinische Dienst. Dessen Mitarbeiter kommen im Auftrag der jeweiligen Pflegekasse ins Haus, bei Privatversicherten schickt das Unternehmen Medicproof einen Gutachter. Vorher haben die Betroffenen oder deren Angehörige bereits ein Formular mit einem umfangreichen Fragenkatalog ausgefüllt. Abgefragt wird dort der ganze Bereich der Grundpflege, wozu Körperpflege (Können Sie sich allein anziehen?) aber auch die Nahrungssaufnahme (Brauchen Sie Hilfe beim Essen? Können Sie noch kochen? etc.) gehören.
Der Hausbesuch des Gutachters dauert in der Regel maximal eine Stunde. Ein realistisches Abbild der benötigten Pflege ergibt sich bei einem solchen Kurz-Besuch kaum. Trotzdem muss der Gutachter sich in dieser Zeit eine Meinung über den Pflegebedarf (in Minuten) gebildet haben und den Pflegekassen eine Empfehlung für die Pflegestufe geben. Wer mit der Entscheidung nicht einverstanden ist, muss Einspruch bei der Pflegekasse erheben. Je nach Einzelfall wird dann ein neuerliches Gutachten erstellt. Aber oft legen Betroffene und Angehörige erst gar keinen Widerspruch ein, weil sie den Weg durch die Behörden scheuen.
Fehler Nummer fünf: Bevormundung
Pflegebedürftige können ihre Pflege nur bedingt beeinflussen. Sie dürfen zwar selbstständig ihren Pflegedienst auswählen. Das Finanzielle aber haben sie nicht in der Hand. Denn sie sind allein Leistungsempfänger - und nicht aktiv zahlender und deshalb selbstbestimmter Kunde. Den eigentlichen Geldverkehr wickeln Pflegekasse und Pflegedienst beziehungsweise Pflegeheim untereinander ab. So ist der Pflegebedürftige in einer Passivrolle, die ihm wenig Handlungsspielraum bei eventuellen Pflegemängeln gibt.
Kritiker der Pflegeversicherung monieren, dass sich die Pflegedienste in diesem System sehr gut eingerichtet haben. Zwar müssen diese jährlich Qualitätskontrollen durchlaufen, doch diese seien eher locker, lautet der Vorwurf. Darüber hinausgehende Kontrollen durch einen Hausbesuch des Medizinischen Dienstes gebe es in nur in Ausnahmefällen. Denn das Problem dahinter heißt wieder einmal: zu viel Bürokratie. Damit der Medizinische Dienst bei einem möglichen Misstand tatsächlich aktiv wird, müssen sich Betreute oder Angehörige mit ihrer Beschwerde zunächst an den jeweiligen Landesverband der Pflegekassen wenden. Und dieser wiederum muss dann den Auftrag für den Kontrollbesuch erteilen.
Fehler Nummer sechs: Zu wenig Hilfe für pflegende Angehörige
Derzeit werden zwei von drei Pflegebedürftigen daheim betreut. Die Pflegekassen zahlen für die Heimunterbringung in den ersten beiden Pflegestufen allerdings mehr als für die ambulante Pflege. Vor allem in der Pflegestufe I ist der Unterschied gravierend, er beträgt fast 600 Euro. So bietet der Staat im Grunde nur wenig finanzielle Anreize, einen Menschen zu Hause in seiner gewohnten Umgebung zu pflegen. Und es besteht die Gefahr, dass schon bei leichter Pflegebedürftigkeit ein Mensch ins Heim "abgeschoben" wird.
Immerhin hat der Staat in den vergangenen Jahren versucht, die Bedingungen für pflegende Angehörige zu verbessern. Wer zu Hause einen Verwandten pflegt, hat mittlerweile einen gesetzlich verankerten Anspruch auf bis zu sechs Monate Pflegezeit, in der der Arbeitnehmer unbezahlt vom Job freigestellt wird. Außerdem wird ein Pflegegeld von maximal 685 Euro (Pflegestufe III) gewährt. Die finanziellen Einbußen durch die Pause im Job sind allerdings meist erheblich größer – und die Dauer der Pflege meist länger. So reichten die Maßnahmen bisher kaum aus, um die finanziellen Belastungen abzufedern.
Deshalb hat der Bundestag unlängst das neue Familienpflegezeitgesetz verabschiedet. Ab Januar 2012 können Arbeitnehmer, die sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern, ihre Arbeitszeit deutlich reduzieren: auf bis zu 15 Wochenstunden, und das zwei Jahre lang. Wer beispielsweise seine Arbeitszeit von 100 auf 50 Prozent verringert, bekommt während der Pflegephase 75 Prozent des letzten Bruttolohns ausgezahlt. Arbeitet er dann später wieder voll, bezieht er zunächst weiter nur 75 Prozent, solange bis der Vorschuss wieder abgearbeitet ist. Heißt letztendlich: Die Angehörigen müssen den Verdienstausfall auch weiterhin selbst schultern - sie können ihn nur über eine längere Zeit strecken und so abfedern. Weiterer Nachteil: Es gibt keinerlei Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit. Der Arbeitgeber kann aus wichtigen betrieblichen Gründen ablehnen. So wird die Zeit und Erfahrung zeigen, ob das neue Familienpflegezeitgesetz tatsächlich der richtige Weg ist.
Unabhängig von der Finanzierung kommt noch hinzu, dass die Pflege dem Angehörigen auch psychisch viel abverlangt. Inzwischen gibt es bundesweit sogenannte Pflegestützpunkte, die den Angehörigen mit Rat zur Seite stehen sollen. Die Pflegekassen müssen laut Gesetz eine Pflegeberatung anbieten, viele beschäftigen deshalb sogenannte Pflegeberater, die ins Haus kommen und sich die Situation vor Ort anschauen und Hilfen geben. Die Sozialverbände bieten außerdem Kurse für pflegende Angehörige an, zudem gibt es zahlreiche Anlaufstellen zur mentalen Unterstützung pflegender Angehöriger.
Laut Pflegeexperten besteht jedoch ein enormes Informationsdefizit unter den Betroffenen. Deshalb ist die Resonanz auf die vielen Angebote oft gering. So sorgt die Pflegeversicherung aus Sicht ihrer Kritiker dafür, dass mehr und mehr Menschen in Heimen landen oder von Pflegediensten betreut werden.
Fehler Nummer sieben: Von der Hand in den Mund
Die jetzige Pflegeversicherung funktioniert ähnlich wie die Rentenversicherung per Umlageverfahren. Heißt: Das Geld, das reinkommt, wird gleich an anderer Stelle wieder ausgegeben. Weil die Kosten steigen und immer weniger Arbeitnehmer einzahlen, wird das Geld knapp. Zwar zehrt die Pflegeversicherung noch von ihren Rücklagen und der guten Konjunktur. Doch die Branche rechnet damit, dass die Überschüsse nur noch wenige Jahre reichen werden, vor allem wenn die Pflege verbessert werden soll. Spätestens, wenn die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, droht dem System der Kollaps.