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Pflege-Tüv der Krankenkassen 140.000 Heimbewohner ans Bett gefesselt

Der Pflege-Qualitätsbericht der Krankenkassen sieht in vielen Bereichen Verbesserung in der Pflege. Doch Defizite gibt es nach wie vor
Der Pflege-Qualitätsbericht der Krankenkassen sieht in vielen Bereichen Verbesserung in der Pflege. Doch Defizite gibt es nach wie vor
© Colourbox
Die Zustände in deutschen Pflegeheimen haben sich etwas verbessert. Doch noch immer sind die Missstände gravierend: Viele Demenzkranke werden mit Gurten am Bett oder im Rollstuhl fixiert.
Von Peter Neitzsch

Bei der Pflege in Heimen und ambulanten Pflegediensten gibt es nach wie vor gravierende Probleme: Rund 140.000 Menschen werden mit Gittern oder Gurten im Bett oder Rollstuhl festgehalten. Bei jedem zehnten fehlt dafür die vorgeschriebene richterliche Anordnung. Das teilten die Krankenkassen am Dienstag bei der Vorlage ihres neuen Qualitätsberichts zur Pflege mit.

In anderen Bereichen sieht der dritte Pflege-Qualitätsbericht des Medizinischen Diensts der Krankenkassen (MDK) durchaus Fortschritte. So hätten sich die Ernährungssituation und die Versorgung Pflegebedürftiger mit Flüssigkeit deutlich verbessert. Auch der Umgang mit Demenzkranken sei besser als 2007. "Die Pflegebedürftigen werden heute besser versorgt als noch vor einigen Jahren", sagte der Vorstand des Spitzenverbands der Krankenkassen, Gernot Kiefer. "Das heißt aber nicht, dass es überall gut ist."

Pflegebedürftige mit Gurten ans Bett gefesselt

Patientenvertreter haben die Missstände in deutschen Pflegeheimen bereits vor der Veröffentlichung des Reports scharf kritisiert. Der Vorstand der Deutschen Hospiz Stiftung, Eugen Brysch, geht davon aus, dass es ungebrochen gravierende Fehlentwicklungen gibt: "42 Prozent der Menschen in Pflegeheimen leben unter freiheitsentziehenden Maßnahmen", sagte Brysch. Pflegebedürftige würden oft mit Bändern am Bett gefesselt.

Die Krankenkassen weisen diese Zahlen als überzogen zurück: "Nach unseren Ergebnissen werden bei 20 Prozent der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen freiheitsentziehende Maßnahmen angewendet", sagte eine MDK-Sprecherin. Brysch verlangte auch solche Missstände künftig in dem Pflege-TÜV zu erfassen. Auch Kassenverbandschef Kiefer forderte, die Häufigkeit solcher Freiheitseinschränkungen sehr deutlich zu reduzieren - und in jedem Fall den Rechtsweg einzuhalten.

Ethikrat will Richtlinien für Demenzkranke

Auch der Deutsche Ethikrat mahnte in seinen ebenfalls am Dienstag veröffentlichten Empfehlungen zum Umgang mit Demenzkranken einen menschlicheren Umgang mit den Betroffenen an. So sollte mehr Augenmerk darauf gelegt werden, inwieweit Demenzkranke bei der Pflege etwa mit Gittern im Bett gehalten werden. Die Länder sollten mindestens alle zwei Jahre einen gemeinsamen Bericht über solche freiheitsbeschränkende Maßnahmen erstellen.

Für die Begleitung und Versorgung von dementen Personen und ihren Angehörigen sollte mehr Geld als bisher aufgewendet werden, so die Empfehlung des Rats. Derzeit sind etwa zwei von drei Heimbewohnern von Demenz oder anderer Formen von Altersverwirrtheit betroffen.

Zustände in den Heimen etwas verbessert

"Die Qualität der Pflege hat sich positiv entwickelt", sagte Kassenverbandschef Kiefer. "Es gibt aber nach wie vor noch viel zu tun." So wurden zwar 95 Prozent der untersuchten Heimbewohner angemessen ernährt, bei den übrigen fünf Prozent stellten die Prüfer des MDK aber eine "defizitäre Ernährungssituation" fest. Wer Hilfe beim Essen und Trinken benötigt, bekam nur in rund 80 Prozent der Fälle die nötige Unterstützung wie speziell zubereitete Speisen.

Der Vorläufer-Bericht hatte vor fünf Jahren gravierende Mängel in den Pflegeheimen aufgedeckt. So gab es 2007 noch bei etwa jedem dritten Pflegebedürftigen Beanstandungen bei Ernährung und Flüssigkeitsversorgung. Bei jedem zehnten Heimbewohner und bei 5,7 Prozent der Pflegebedürftigen daheim stellten die Prüfer 2007 einen akut unzureichenden Pflegezustand fest.

Probleme bei Medikamenten und Schmerzerfassung

Defizite sieht der Report auch beim Medikamentenmanagement, der Erfassung von Schmerzen und der Vermeidung von Druckgeschwüren. Knapp die Hälfte der untersuchten Heimbewohner habe ein Risiko, sich wundzuliegen und so ein Geschwür zu entwickeln. Doch nur knapp 60 Prozent der Risiko-Patienten sei angemessen versorgt worden. Bei der erforderlichen Prophylaxe, wie Lagerungswechsel oder Hilfsmittel, habe sich keine Verbesserung ergeben.

Grundlage des Berichts sind die Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes zwischen Juli 2009 und Dezember 2010. Ausgewertet wurden jeweils rund 8000 Überprüfungen von Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten. Insgesamt wurde der Pflegezustand von rund 62.000 Heimbewohnern untersucht sowie von rund 45.000 Pflegebedürftigen, die von ambulanten Diensten betreut wurden.

Der Vorstand der Hospiz Stiftung Brysch äußerte Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Daten des Reports: "Wir kritisieren seit Jahren, dass das Fälschen und Frisieren von Pflege-Dokumentationen, die der Medizinische Dienst einsieht, nicht bestraft wird", sagte Brysch. Rund 30 Prozent der Dokumentationen in den Pflegeheimen seien nicht korrekt. Der Medizinische Dienst der Kassen sei angesichts der stark verbesserungswürdigen Zustände in den Heimen zahnlos und könne nur eine traurige Statistik führen.

Pflegereform soll gegensteuern

Brysch forderte zudem die Politik auf, für mehr angestellte Ärzte in den Heimen zu sorgen, um die Einweisung von Pflegepatienten in Krankenhäuser zu vermeiden. "Von den 700.000 Menschen in Pflegeheimen benötigen 500.000 eine zumindest partielle Schmerztherapie."

Die Situation der rund 500.000 Demenzkranken in Deutschland soll durch Pflegereform der schwarz-gelben Koalition verbessert werden. Dafür soll unter anderem der Beitrag zur Pflegeversicherung zum 1. Januar 2013 von 1,95 auf 2,05 Prozent steigen. Mit den Mehreinnahmen von rund einer Milliarde Euro pro Jahr soll vor allem die Situation demenzkranker Menschen verbessert werden, die bislang aufgrund des System der Eingruppierung in Pflegestufen keine angemessene Pflege erhalten.

Vertreter der Pflegebranche kritisieren das Konzept von Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) jedoch als unzulänglich. Auch der Opposition gehen die Vorschläge nicht weit genug. Am Donnerstag befasst sich der Bundestag erstmals mit der Reform.

Von Peter Neitzsch (mit dpa)

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