Südamerika Zurück in die Zukunft

Von Heike Sonnberger
Wenn sie von der Zukunft sprechen, deuten sie hinter sich, wenn sie von Vergangenem erzählen, zeigen sie nach vorne. Die Aymara, ein Volk in den Anden Südamerikas, haben ein einzigartiges Konzept, die Zeit zu deuten.

Der Herbst liegt noch vor uns, der Winter erst recht, der Frühling liegt schon hinter uns, der Sommer bald auch. Für uns ist dieses räumliche Einordnung von zeitlichen Begriffen selbstverständlich. Vergangenes haben wir hinter uns gelassen, während Zukünftiges vor uns liegt. Forscher dachten lange, dass dieses räumliche Begreifen von Zeit universell in allen Kulturen zu finden ist. Die Vergangenheit liegt hinter dem Menschen, statt rechts oder links, über oder unter ihm.

Ein Konzept steht auf dem Kopf

Es gibt allerdings eine Ausnahme. Das Volk der Aymara lebt in den Anden Boliviens, Perus und Chiles - und stellt das Konzept auf den Kopf. Denn die Aymara platzieren die Vergangenheit vor dem Ich und die Zukunft hinter ihm. Das haben zwei Forscher der University of California herausgefunden. In Aymara, der gleichnamigen Sprache des Volkes, bedeutet das Wörtchen "qhipa" sowohl "hinten" als auch "Zukunft", während "nayra" für "vorne" sowie für "Vergangenheit" steht.

Das allein erklärt jedoch nicht viel. Ist es nur das Vokabular, oder tatsächlich das kognitive Begreifen von Zeit, das die Aymara von allen anderen Kulturen unterscheidet? Die Wissenschaftler Rafael Núñez und Eve Sweetser sprachen im Norden Chiles mit 30 Erwachsenen des Aymara-Volkes und zeichneten in zwanzig Stunden Videointerviews Erzählungen und Gesten auf. Die meisten Gesprächspartner sprachen sowohl Aymara als auch Spanisch, einige Teilnehmer beherrschten nur eine der beiden Sprachen.

Hinter dem Rücken versteckt

Das Ergebnis der Studie: Je älter und je verwurzelter in Sprache und Kultur der Aymara die Teilnehmer sind, desto wahrscheinlicher liegt die Zukunft wortwörtlich hinter ihnen. Besonders alte Aymara deuteten über die Schulter, wenn sie über die Zukunft sprachen und zeigten nach vorne, wenn sich das Gespräch um Vergangenes drehte. Junge Aymara mit guten Spanischkenntnissen machten es andersherum: Sie haben die Zukunft, wie der Rest der Welt, vor sich.

Núñez und Sweetser haben zwei Erklärungen für dieses Phänomen: Die Aymara messen visueller Erfahrung große Bedeutung bei. So ist es zum Beispiel nicht möglich, von einem Dorffest zu berichten, ohne anzugeben, ob der Sprecher selbst anwesend war, oder das Geschehene nur erzählt bekommen hat. "Ältere Aymara weigern sich ganz einfach oft, über die Zukunft zu reden, weil nichts oder wenig Sinnvolles darüber gesagt werden kann", schreiben die Forscher. In einer Kultur, in der das Gesehene eine so zentrale Rolle spielt, ist es nur logisch, dass die Vergangenheit vor einem liegt, also im Blickfeld. Die Zukunft, ungesehen und unerlebt, ist hinter den Rücken der Aymara versteckt.

Aymaras stehen im Leben

Die zweite Erklärung ist noch aufschlussreicher. Wir wandeln auf dem Weg des Lebens und kennen, was auf diesem Weg hinter uns liegt. Die nächste Biegung birgt das Unbekannte, das Zukünftige, es liegt auf dem Weg vor uns. Aymara haben jedoch ein stationäres Zeitverständnis. Sie laufen nicht, sie stehen im Leben - und schauen dabei nach vorne. Das Unbekannte liegt also hinter ihnen.

Doch immer mehr junge Aymara schauen der Zukunft ins Auge: Sie vergessen ihre alte Sprache und mit ihr ein einzigartiges Zeitverständnis - und lassen die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich.

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