Das Handy klingelt im Auto. Der Fahrer sucht nach dem Knopf für die Freisprechanlage und ist kurz abgelenkt. Es könnte auch die Suche nach einem Radiosender sein. Eine Alltagssituation.
Ein, zwei Sekunden, in denen sich die Situation auf der Straße ändert. Der Vordermann bremst hart, Reifen quietschen, der Abstand verringert sich dramatisch. Noch bevor der Fahrer die Lage erfassen kann, hat sein Auto schon reagiert: Es bremst automatisch.
Und längst hat die Bordelektronik festgestellt, dass ein Unfall nicht mehr zu verhindern ist. Jetzt kann es nur noch darum gehen, dass der Zusammenstoß so harmlos wie möglich bleibt. Wenige Augenblicke vor dem Aufprall knallt es - unter der Vorderachse. Ein Airbag hat gezündet und presst sein rutschfestes Material zwischen Autounterseite und Straßenbelag. Die Wirkung: Der Wagen bremst abrupt ab und prallt mit weniger Tempo in das Heck des Vordermanns, wodurch sich die Verletzungsgefahr für die Insassen verringert.
Präsentation auf dem Autosicherheits-Kongress
Ein Airbag unter der Vorderachse? Das ist keine Idee für den nächsten James-Bond-Film, sondern das wohl überraschendste Detail am neuen Experimentier-Sicherheits-Fahrzeug (ESF) von Mercedes, das in diesen Tagen auf einem Autosicherheits-Kongress in Stuttgart vorgestellt wird.
Mercedes ist der Erfinder der Unfallsicherheit und hat an mehreren solcher Experimentalautos demonstriert, wie ein Automobil sicherer zu machen ist. Diese Entwicklung hat mit der Einführung der serienmäßigen Knautschzone vor einem halben Jahrhundert begonnen - eine Idee des Mercedes-Ingenieurs Béla Barényi.
An dem neuen Auto, das noch mit einem runden Dutzend weiterer neuer Sicherheitstechniken ausgestattet ist, will der Stuttgarter Autobauer "Lösungen zeigen, die realisierbar sind und mit denen wir die Fahrzeugsicherheit nochmals deutlich verbessern werden", sagt Karl-Heinz Baumann. Der Mercedes-Entwickler gehört zu Europas führenden Spezialisten in der Disziplin. Er erfand zum Beispiel den Insassenschutz Pre-Safe, der unter anderem schon vor einem Unfall die Gurte strafft.
Bruchteile von Sekunden nutzen
Dieser Früherkennungsgedanke liegt auch den meisten Erfindungen in dem neuen Sicherheitswagen zugrunde. "Wir müssen umdenken und mit dem Insassenschutz nicht erst bis zum Aufprall warten", sagt Rodolfo Schöneburg, Entwicklungschef für die passive Sicherheit bei Mercedes. Mit Radar, Sensoren und Kameras könne man heute ermitteln, ob ein Unfall direkt bevorstehe. "Die Zeit zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem Aufprall müssen wir nutzen, auch wenn es nur Bruchteile von Sekunden sind." Das Ziel: maximale Verzögerung vor dem Crash.
Rund 75 Millisekunden vor dem Unfall bläst sich der Bremsairbag auf. "Die Reibkraft übertrifft die Wirkung einer herkömmlichen Bremse um das Doppelte", sagt Baumann. "Wir können die Aufprallgeschwindigkeit dadurch um drei Stundenkilometer verringern." Ohne diese Entwicklung müsste die Crashzone der Karosserie gut 18 Zentimeter länger sein, um den gleichen Sicherheitseffekt zu erreichen.
Ähnlich verblüffend wie der Bremsairbag ist eine neue Technik, die die Folgen eines Seitenaufpralls begrenzen soll. Hat das Seitenradar des ESF erkannt, dass ein Zusammenstoß unvermeidbar ist, blasen Gasgeneratoren in Millisekunden die Verstärkungsprofile in den Türen auf.
Es klingt unglaublich, funktioniert aber: Die stählernen Hohlprofile wölben sich durch den Gasdruck von bis zu 20 bar nach außen, vergrößern ihren Durchmesser um das Dreifache und bieten dadurch einen wirksameren Schutz.